Tag: 20. Februar 2012

Halbseiden

Gerade eben, auf der Fahrt zu Edeka, im Radio Deutschlandfunk gehört. Journal am Vormittag – Kontrovers. Eine politische Diskussion. Es ging, natürlich, um den Bundespräsidenten, um Wulff und Gauck. Jemand, ich glaube, es war der Politikprofessor Obermeier, sagte, die Amtszeit Wulffs sei so etwas gewesen wie der Einbruch des Halbseidenen in die Politik. Stimmt. Die Affairen waren, gemessen an Kohlschen oder Schäubleschen Dimensionen eher mickrig. Die Höhe der Beträge eher weniger aufregend. Halbseiden eben. Maschmeyer ist eben nicht Flick. Und Groenewold kein Rüstungskonzern. Ein Auto, ein Kredit, ein Bobbycar, die eine oder andere Übernachtung in einem Hotel, Urlaube und Ferienwohnungen. Keine Millionenspenden. Keine Riesenaufträge. Halbseiden. Der kleine persönliche Vorteil. Halbseiden ist auch eher die Debatte um die Wulffsche Pension, den Ehrensold. Man soll sie ihm lassen. Kann man sich wirklich vorstellen, daß ein Ex-Bundespräsident sich anstellen läßt, weil man ihm die zustehende Pension verweigert, etwa bei einem Energieunternehmen, bei Maschmeyer, in einer Anwaltskanzlei? Das sollte sich das Land, das sollten sich auch seine Bürger nicht antun. Zudem: Einhundertneunundneunzigtausend Euro Ehrensold im Jahr ist weniger, als so mancher Zweigstellenleiter einer Bank oder Sparkasse einstreicht. Wir sollten die Maßstäbe nicht ins Rutschen bringen. Ein Bundespräsident sollte eine auskömmliche Pension kassieren dürfen. Gleich, wie sehr er in seiner Amtszeit auch kritisiert wurde.

 

 

Zweite Wahl

Tja. Gauck. Jetzt, finde ich, ist er eher zweite Wahl. Wäre es nicht hohe Zeit für eine Bundespräsidentin gewesen? Zwar hat Gauck, was die beiden letzten Präsidenten eher nicht hatten: das Wort, die Sprache, auch Erfahrung, Lebenserfahrung. Aber kann er wirklich die gewachsene Kluft zwischen Politik und Gesellschaft, zwischen Parteien und Bürgern schließen, wenigstens ansatzweise? Ist er nicht doch, obwohl nicht parteipolitisch eingebunden, eher Vertreter der Macht, der aktuellen Variante des politischen Systems? Einer Gesellschaft, die vielfach geteilt ist. In oben und unten, in arm und reich, in mächtig und ohnmächtig, in sprachlos und einflußreich. Sein Thema, sein Lebensthema ist, natürlich, die Freiheit, die Freiheit des Einzelnen in einer bürgerlichen Gesellschaft. Und die freie, zivilgesellschaftliche Demokratie als Gegenentwurf zur Diktatur, zu vor- oder nachbürgerlichen Gesellschaften feudalen Charakters. Wenn die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft indes, wie derzeit, vor allem dazu führt, daß wenige ökonomisch immer mächtiger werden und immer mehr Menschen dagegen immer weniger haben und in wirtschaftlich prekären Verhältnissen leben müssen, dann ist es mit der Entwicklung unserer Gesellschaft in Richtung eines freiheitlichen Zusammenschlusses freier Bürger mit gleichen Rechte und Pflichten und gleichen Chancen für alle nicht wirklich weit her. Wenn immer mehr Menschen sich von den politischen Eliten lossagen, von Parteien, von Politikern, von Parlamenten, von Regierungen, wenn immer mehr Menschen eigene, neue Formen entwickeln, Interessen durchzusetzen, neue Kommunikationsmöglichkeiten nutzen und entwickeln, dann ist die bürgerliche Gesellschaft nicht wirklich entfaltet. Vom freien, freiwilligen Zusammenschluß freier Bürger, der Citoyens, zu einem Gemeinwesen, in dem Interessen offen ausgehandelt und Konflikte rational verhandelt werden, sind wir noch entfernt. Die bürgerliche Gesellschaft nahm ihren Anfang in der französischen Revolution gegen die feudale Adels- und Klerusgesellschaft. Das Motto für die Umwälzung lautete: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Das ist und bleibt die Richtschnur für die Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft. Freiheit ist Demokratie, demokratische Freiheit für Jedermann. Rechtsstaat, gleiches Recht für  alle, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit, Religionsfreiheit, die Freiheit der Kunst, das Recht zur Teilhabe an der Politik, frei von Privilegien, frei von ökonomischer Macht. Aber ohne die beiden anderen Kriterien, Gleichheit und Brüderlichkeit, ist die Freiheit nichts. Gleichheit bedeutet Gleichheit vor dem Gesetz. Gleiche Bildungschancen. Gleiche Lebenschancen. Unabhängig vom Geschlecht, vom Alter, vom gesellschaftlichen Stand, vom Einkommen, vom Vermögen, von Religionszugehörigkeit, von der Hautfarbe, von der Herkunft. Brüderlichkeit. Ich mag dieses ältlich klingende Wort. Lasse mich aber auch ein auf die kirchlich geprägte Nächstenliebe oder die eher gewerkschaftlich gedachte Solidarität. Wenn freie Bürger sich zusammenschließen zu einem Gemeinwesen, dann muß jeder zu diesem Gemeinwesen beitragen. Der Starke stützt den Schwachen, der Reiche gibt mehr als der Arme. Die Menschen verhalten sich brüderlich zueinander. Und es regiert nicht, wie es der neoliberale Zeitgeist vorgibt, die Gier, das Geld, der Erfolg. Mein Auto, mein Haus, mein Schiff. Hast Du was, bist Du was. Das ist lediglich eine Gesellschaft zur Erzielung maximalen ökonomischen Reichtums, die Assoziation der Bourgeois, der Bürger als Wirtschaftssubjekte, die darwinistische Verkümmerung der bürgerlichen Gesellschaft. Achso, ja. Joachim Gauck. Von dem läse oder hörte ich solches gerne.