Monat: Mai 2011

Das jüngste Gerücht: Entrückung

Heute also ist es soweit: Heute ist der Tag des jüngsten Gerichts. Das jedenfalls will der pensionierte amerikanische Wissenschaftler Harold Camping mit Hilfe der Bibel herausgefunden haben. Heute, so Camping, bricht mit dem jüngsten Gericht die Endzeit an. Die Auserwählten werden die “Entrückung” erleben, das Auffahren in den Himmel. Und in genau fünf Monaten, am 21. Oktober, wird die Erde vom Feuer verschlungen und vernichtet. Ich kann nur hoffen, daß ich Heidenkind mit in den Himmel komme. Aber bitte erst, nachdem ich das Endspiel um den deutschen Fußballpokal heute Abend gesehen habe. Heaven can weit.

Neustart

Neustart – eine merkwürdige Vokabel. Im Sport etwa bedeutet sie, daß mit dem Start etwas schief gegangen ist, weshalb er wiederholt werden muß. Beim Autorennen durch einen Unfall oder in der Leichtathletik, wenn ein Starter vor dem Startsignal weggerannt ist. In der Politik muß der Start auch mißlungen sein, wenn die Vokabel Neustart bemüht wird. Wie bei der FDP. Seit der Konstituierung der Bundesregierung hat die FDP so ziemlich alles vermasselt. Aus guten vierzehn wurden so zeitweise kümmerliche drei Prozent Zustimmung. Jetzt also ein Neustart. Westerwelle: bleibt. Niebel: bleibt. Brüderle: bleibt. Rösler: bleibt. Lindner: bleibt. Homburger: bleibt. Pieper: bleibt. Alle bleiben. Nur Koch-Mehrin bleibt nicht. Sie tritt von allen politischen Ämtern zurück. Weil sie damit rechnen muß, daß man ihr den erschlichenen Doktortitel aberkennt. Sie bleibt aber als Europaabgeordnete. Also: Alle bleiben, keiner geht. Es gibt nur einen Ämtertausch, einen Stuhlwechsel. Westerwelle darf die FDP nicht mehr führen, das ganze Land aber weiterhin vertreten. Das verstehe, wer will. Rösler, der gescheiterte Gesundheitsminister, darf die FDP führen. Brüderle, gefürchteter Weinköniginnenküsser, war als Wirtschaftsminister eine Fehlbesetzung, darf nun aber den Fraktionszuchtmeister geben. Homburger darf die Fraktion dafür nicht mehr knechten, jetzt aber die gesamte Partei als erste stellvertretende Vorsitzende. Niebel bleibt. Mit Kappe. Pieper bleibt so lange, wie auch Westerwelle bleibt. Lindner bleibt. Die nächsten 32 Jahre. Neustart? Das ist ein Ringtausch, ein Karussell. Immer im Kreis herum, statt nach vorn. Nur auf anderen Plätzen. Reise nach Jerusalem mit der immer gleichen Anzahl von Stühlen. Der so erforderliche politische Neustart wird also vom alten Personal geleistet werden. Das wird spannend. Auch ein Neustart kann ein Fehlstart sein.

Die Bahn

Wie sollen die eigentlich einen Bahnhof in Stuttgart bauen, wenn sie nicht einmal imstande sind, bei der Belastungsberechnung für die Müngstener Brücke auch das Gewicht der Passagiere zu berücksichtigen? Von der Bahn ist die Rede, natürlich. Jetzt verkehren eben leere Züge zwischen Remscheid und Solingen. Nein, nicht einmal das: Denn auch das Achsgewicht der Züge war größer als beantragt. Mit solchen Experten wäre vor 112 Jahren die Brücke gewiß niemals gebaut worden.

Catch The Wind

Morgen wird er fünfundsechzig und kommt mithin ins Rentenalter. Die Rede ist von Donovan Phillips Leitch, dem in Glasgow geborenen Barden, Gitarristen und Songwriter. Wie war das noch damals, 1964, 1965, als er uns, meine Freunde und mich, allesamt gerade vierzehn- und fünfzehnjährig, mit seinem ersten Hit beglückte? Catch The Wind. Die britische Antwort auf Bob Dylan, so nannte der Radiosprecher, verflixt, von welchem Sender eigentlich?, Donovan. Ein dünnes Tremolo als Antwort auf eine dünn näselnde Stimme, vergleichbar nur das sägende Mundharmonikaspiel. Völlig egal. Alles besser als etwa Bill Ramsey oder Silvio Francesco. Und “I want to be in the warm hold of your loving mind” konnten wir seinerzeit schon verstehen, dafür reichte sogar das eher an Sir Francis Drake und seiner Bedeutung für das Königreich erworbene Schulenglisch. To feel you all around me and to take your hand along the sand, das entsprach auch unseren weitgehend unbestimmten Sehnsüchten seinerzeit. Kurzum: Donovan war angesagt und wann immer eine Party romantisch werden sollte, war der Folksänger dabei. Daß er später auch mit Musikern von Led Zeppelin oder der Jeff Beck Group musizierte, das habe ich erst vor wenigen Jahren mitbekommen. Die Stones, die Pretty Things, Kinks, Who, viele, viele, andere haben Donovan schnell ersetzt und die Parties müßten auch nicht mehr so romantisch sein, dafür laut, sehr laut.

Catch The Wind

In the chilly hours and minutes
of uncertainty
I want to be
In the warm hold of your loving mind.

To feel you all around me
And to take your hand
Along the sand
Ah, but I may as well try and catch the wind.

When sundown pales the sky
I wanna hide a while
Behind your smile
And everywhere I’d look, your eyes I’d find.

For me to love you now
Would be the sweetest thing,
T’would make me sing
Ah, but I may as well try and catch the wind.

Dee dee da da la da da da da da
Ya da da, da da, da da

When rain has hung the leaves with tears
I want you near
To kill my fears
To help me to leave all my blues behind.

For standing in your heart
Is where I wanna be
And I long to be,
Ah, but I may as well try and catch the wind.

Ah, but I may as well try and catch the wind

Endlich abgeknallt

Da will man doch seinen Ohren nicht trauen. “Ich freue mich darüber, daß es gelungen ist, Bin Laden zu töten.” Diesen Satz  formulierte gestern nicht ein beliebiger Terrorismusexperte oder Journalist, ein Irgendjemand bei einer Straßenbefragung, ein Niemand ohne jede politische Bedeutung. Nein, diesen Satz sprach die Bundeskanzlerin in die Mikrophone der deutschen und der Weltpresse, also ein Verfassungsorgan.  “Heute ist ein guter Tag.” Mit dieser Formulierung assistierte ihr Guido Westerwelle, der Bundesaußenminister, gleichfalls nicht nur Privatperson oder Parteipolitiker, sondern Träger eines in der Verfassung verankerten Amtes. Haben die führenden Politiker wirklich so gar kein Gespür mehr für politische Semantik? Ich freue mich darüber, daß der Terrorist Bin Laden endlich abgeknallt worden ist und deshalb ist heute ein schöner Tag.  Niemand wachen Sinnes, niemand mit intakter politischer Moral wird Sympathien für Bin Laden hegen, hegen können. Das aber gestattet noch keineswegs diese unerhörte Verschluderung der politischen Sprache. Kirchenvertreter haben darauf hingewiesen, daß es kein schöner Tag ist, wenn ein Mensch stirbt.  Man kann und darf und muß womöglich der Hoffnung Ausdruck geben, daß der Terrorismus geschwächt worden ist durch den Tod von Osama Bin Laden. Aber Freude über die Tötung ist etwas anderes. “Die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens ist die Sprache” schrieben einst, 1845, Karl Marx und Friedrich Engels. Jedenfalls Frau Merkel sollte davon schon einmal gehört haben. Wem Marx oder Engels nicht gefallen sollten, dem sei Samuel Johnson empfohlen, englischer Gelehrter, Dichter und Kritiker und nach William Shakespeare der meistzitierte englische Autor: “Die Sprache ist die Kleidung der Gedanken.” Jene, die derart unbedacht formulieren, nehmen zugleich immer die christlich-jüdisch-abendländische Kultur und Geschichte für sich in Anspruch. Das kann aber in diesem Fall kaum mehr sein als das alttestamentarische “Auge um Auge und Zahn um Zahn”. Geistig-politische Wende. Wie armselig.