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Nicht die Quantität der Flüchtlinge ist historisch, sondern die Qualität der Zuwendung.

Ein anderer Zustand des Begreifens ist der, der ohne Vergleich auskommt. (…) All die Menschen in diesen Tagen, auf dem Land oder in der Stadt, die geben und teilen, was sie haben: Kinderwagen oder Turnschuhe, ein Bett in der eigenen Wohnung oder einen Platz am Tisch zum Abendessen, all diese Menschen suchen keine Gemeinsamkeiten oder Differenzen. Sie begutachten nicht einzelne Eigenschaften derer, die da nach Europa, in die eigene Gegend oder Straße kommen, sie teilen die Menschen nicht ein oder auf in jene, die genau gleich oder fast genau gleich oder anders sind als sie selbst. Der bewegenden Hilfsbereitschaft, die in diesen Wochen zu erleben ist, liegt ein anderer Blick, eine andere Sorte des Begreifens zugrunde. Sie nehmen die Geflüchteten als das, was sie sind: Geflüchtete. Dieses tiefe Begreifen ist bedingungslos. Es sortiert nicht die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen, es entzieht sich jener skalierenden Musterung, nach der “legitime” von “illegitimen”, “nützliche” von “schädlichen” Ankömmlingen geschieden und bei Bedarf dämonisiert und entwertet werden. Es versteht vielmehr Verletzbarkeit als condition humaine: ob es nun politische Verfolgung oder religiöse Vertreibung, sexuelle Misshandlung oder ökonomische Verelendung war, die Menschen zur Flucht gedrängt hat. Nicht die Quantität derer, die hierher fliehen, ist historisch zu nennen, sondern die Qualität der Zuwendung derer, die sie anerkennen. (…) Diese beeindruckende Bewegung aus zivilem Engagement ist keineswegs nur privat. Sondern sie ist in ihrer Selbstermächtigung auch politischer als manche Regierung, die ihre angebliche Ohnmacht in der Flüchtlingskrise nur vortäuscht.

Eine beeindruckende Kolumne von Carolin Emcke in der Süddeutschen Zeitung. Macht. Nicht die Quantität der Flüchtlinge ist historisch, sondern die Qualität der Zuwendung. Unbedingt vollständig nachlesen!

Wodka-sauber

Über die Vorliebe für den Teufel habe ich hier schon mal was geschrieben. In anderem Kontext freilich. Sympathy för de Düvel lief mir vor ein paar Tagen noch einmal über den Weg. In der Süddeutschen. Unter dem Titel Maschinenkalte Pulsbeschleuniger ließ sich Bernd Graff  lobend, ach was: hymnisch über das neue Album von Motörhead aus, Bad Magic. “Das Album gehört zu den besseren der Band, zeigt in Reinform ihre Wurzeln in Punk, Hard Rock und Heavy Metal. Songs wie ‘Electricity’ und ‘Tell Me Who To Kill’ sind wodka-sauberes, maschinenkaltes Motörhead, schnell und kompromisslos hart: Pulsbeschleuniger, die man sehr gerne live hören wird.” Wodka-sauber und Maschinenkalt. Danke, Bernd Graff. Und weiter heißt es: “Das Tollste: Motörhead ist eine Version des Rolling Stones-Klassikers: ‘Sympathy for the Devil’ gelungen, die atemberaubend anders als herkömmliche Coverversionen ist. Hier kommen Schlagzeug und Gitarre endlich zu dem souveränen Recht, das die Stones ihnen nicht geben wollten – oder konnten.”

Umlaufaufzug

Nicht wahr, Umlaufaufzug gehört zu den Worten, die man nie hört und nur ganz selten zu lesen bekommt. Umlaufaufzug. Gemeint ist ein Paternoster. Eine, wie Wikipedia aufklärt, “Sonderform einer Aufzugsanlage zur Personenbeförderung. Beim Paternosteraufzug verkehren mehrere an zwei Ketten hängend befestigte Einzelkabinen (üblicherweise für ein bis zwei Personen je Kabine) im ständigen Umlaufbetrieb. Die Kabinen werden am oberen und unteren Wendepunkt über große Scheiben in den jeweils anderen Aufzugsschacht umgesetzt. Die Beförderung von Personen beim Wendevorgang ist vorgesehen und gefahrlos. Die Beförderungsgeschwindigkeit beträgt ca. 0,20 bis 0,45 Meter pro Sekunde.” Doch ab dem ersten Juni ist es erst einmal vorbei mit den Paternostern. In der Süddeutschen ist heute zu lesen: “Gemäß der Betriebssicherheitsverordnung, die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) neu gefasst hat, dürfen Paternoster vom 1. Juni an aber aus Sicherheitsgründen nur noch von eingewiesenen Beschäftigten benutzt werden.” Andrea Nahles, mal wieder. Obwohl doch, wie es in dem Artikel weiter heißt, selbst Fachleute sich nicht an einen nennenswerten Unfall, schon gar nicht an Personenschäden im Zusammenhang mit Paternostern erinnern können. Diese Aufzüge sind ein Stück Industriegeschichte, erhaltenswert, sicher, nostalgisch. Vater unser, Pater noster, gib, daß uns der Paternoster erhalten bleibe und und die Einsicht in Andrea Nahles einfahre. Amen.

ESC

ESC? Escape oder Eurovision Song Contest? Letzteres. Wobei Escape, also Flucht, auch keine schlechte Lösung gewesen wäre. Hier ein paar Ausschnitte aus einer Kritik von Hans Hoff unter dem Titel: ESC-Finale in Wien. Ein Hauch von Nichts in der Süddeutschen Zeitung von gestern.

Zu deutlich wurde in Wien, dass der ESC musikalisch vorwiegend auf ganz kleiner Flamme kocht. Nachdem es im vergangenen Jahr mit dem Sieg von Conchita Wurst so etwas wie ein kollektives Erweckungserlebnis gegeben hatte, präsentierte sich die Show nun wieder als das, was sie in den meisten müden Jahren war, eine beliebig wirkende Aneinanderreihung von mehrheitlich lauwarmen Liedern, deren musikalische Substanz jenseits der ESC-Bühne kaum noch nachweisbar scheint.
In Sachen Belanglosigkeit machen auch die Erstplatzierten keine Ausnahme. Nicht nur Schweden, Russland und Italien haben als Spitzentrio wenig zu bieten, auch hochplatzierte Titel wie die von Belgien und Australien sind letztlich nur kalkulierte Songkonstruktionen, die ohne die visuelle Unterstützung einer großartigen Technik in sich zusammenfallen wie ein Kartenhaus im Sturm.
Letztlich aber passte das zur Gesamtvorstellung in Wien. Der ESC 2015, das war ein Platz, an dem viele schlechte Lieder aus ganz Europa vorübergehend Asyl fanden.
Wären die Lieder so tiefgründig wie die Dekolletees, die in diesem Jahr vorzugsweise bis auf Bauchnabelhöhe geöffnet wurden, könnte man dem ESC durchaus Substanz bescheinigen. Aber an Substanz ist beim ESC bekanntlich niemand interessiert. Dieser Wettbewerb ist für den schnellen Verzehr gedacht. Nachhaltigkeit kann hier niemand gebrauchen. Nachhaltigkeit würde die Folgeveranstaltung im kommenden Jahr nur stören.

 

Zeit zu verstummen

Heute ist der Tag, da eine junge Frau aus Offenbach, Tugce A., totgeschlagen, weil sie zwei um Hilfe rufenden Mädchen beistehen wollte, beerdigt wird.

“Wenn man sich etwas wünschen darf am traurigen Tag dieser Beerdigung: dass die Rezeptemacherei schweigt, dass die Besserwisserei verstummt vor dem Tod. Wenigstens für diesen Tag sollte man sie loslassen, die Frau, die im so richtigen, so falschen Moment den Reflex des Menschlichen spürte.”

(Mathias Drobinski, Zivilcourage. Zeit zu verstummen, in: Süddeutsche Zeitung von heute)

Das goldene Kalb

Unter dieser Überschrift hat Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung von heute seine Meinung zum neusten Vorschlag der CDU im Umgang mit Freihandelsabkommensverhandlungen kundgetan:

Der Geschäftsführer der Unions-Fraktion im Bundestag hat die SPD allen Ernstes aufgefordert, ihre ohnehin nur sehr verhaltene Kritik an den geplanten Abkommen zwischen der EU und den USA (genannt TTIP) und der EU und Kanada (genannt Ceta) aufzugeben. Die Abkommen sollen, so stellt es sich die Union vor, kritikfrei gestellt werden. Massive Eingriffe in die Rechtsstaatlichkeit durch private Schiedsgerichte sollen, so wünscht sich das die Union, dankbar und mit “Euphorie” begrüßt werden. (…) Man kann nicht erst, wie geschehen, geheim verhandeln und die Öffentlichkeit damit vertrösten, dass man später noch über alles reden könne – und dann später sagen, dass jetzt alles wunderbar geregelt und Kritik nun wirklich nicht mehr am Platze, ja massiv schädlich sei. So kann man mit dem Souverän, dem Volk, und so kann man mit den Parlamenten nicht umgehen. Freihandelsabkommen dürfen nicht zu Entdemokratisierungs-Abkommen und nicht zu Entrechtstaatlichungs-Abkommen werden. Der Tanz ums goldene Kalb gehört ins Alte Testament, nicht in eine demokratische Gesellschaft.