Kategorie: Literatur

Ausweis 

Von Ekkehard Faude, dem Verleger der Sonntagsgeschichten. Von der Stille und dem ganzen Rest werde ich via Facebook mal wieder auf eine lesenswerte Geschichte gestoßen. Vielen Dank, Herr Faude. Es geht um das Gedicht: Ausweis von Rainer BrambachBrambach hatte mit der Schweizer Fremdenpolizei zu tun. 

„Noch ziemlich sicher auf den Beinen
um drei in der Frühe nach einem Fest
durch die leeren Gassen heimwärts
von einer Patrouille gestoppt
und befragt nach einem Ausweis
zog ich ein rotweingetränktes Gedicht aus der Tasche:
Nach einem Fest um drei in der Frühe
noch ziemlich sicher auf den Beinen
durch die leeren Gassen heimwärts – “

Rainer Brambach, Heiterkeit im Garten. Das gesamte Werk. (Diogenes Neunzehnhundertneunundachtzig)

Und in den Kommentaren dann der Hinweis auf den Blog des Staatsarchivs Basel-Stadt: AKTENZEICHEN PD-REG DreiA Sechundfünfzigtausendneunundsechzig: RAINER BRAMBACH

Niemand mit Neugier und Interesse an kaum gelesenen Geschichten sollte sich diese Geschichte über verquere Geschichte, das Baseler Nichtsnutzverfolgungssystem, den Geliebten einer Strumpfstopferin, der diese und deren Heim erst in den Morgenstunden verläßt, entgehen lassen.

Beitragsfoto: EinDao: Rainer Brambach (1917-1983) Schriftsteller, Lyriker. Prominenten Grabfeld Friedhof am Hörnl, CC BY-SA 3.0

Drei Arten Gedichte aufzuschreiben

Heute ist der Welttag der Poesie. Von der UNESCO ausgerufen und seit dem Jahr Zweitausend jedes Jahr begangen. Deshalb hier der Text von Hilde Domin, Drei Arten Gedichte aufzuschreiben.


Ein trockenes Flussbett
ein weißes Band von Kieselsteinen
von weitem gesehen
hierauf wünsche ich zu schreiben
in klaren Lettern
oder eine Schutthalde
Geröll
gleitend unter meine Zeilen
wegrutschend
damit das heikle Leben meiner Worte
ihr Dennoch
ein Dennoch jedes Buchstabens sei

2.
Kleine Buchstaben
genaue
damit die Worte leise kommen
damit die Worte sich einschleichen
damit man hingehen muss
zu den Worten
sie suchen in dem weißen
Papier
leise
man merkt nicht wie sie eintreten
durch die Poren
Schweiß der nach innen rinnt
Angst
meine
unsere
und das Dennoch jedes Buchstabens

3.
Ich will einen Streifen Papier
so groß wie ich
ein Meter sechzig
darauf ein Gedicht
das schreit
sowie einer vorübergeht
schreit in schwarzen Buchstaben
das etwas Unmögliches verlangt
Zivilcourage zum Beispiel
diesen Mut den kein Tier hat
Mit-Schmerz zum Beispiel
Solidarität statt Herde
Fremd-Worte
heimisch zu machen im Tun

Mensch
Tier das Zivilcourage hat
Mensch
Tier das den Mit-Schmerz kennt
Mensch Fremdwort-Tier Wort-Tier
Tier
das Gedichte schreibt
Gedicht
das Unmögliches verlangt
von jedem der vorbeigeht
dringend
unabweisbar
als rufe es
“Trink Coca-Cola”

Get Back by The Beatles 

Für „Love Me Do“, den ersten Beatlestitel aus dem Jahr Neunzehnhundertzweiundsechzig, war ich mit elf Jahren doch noch zu jung. Ein Jahr später, als „I Want To Hold Your Hand“ England überrollte und dann ganz Europa und hernach „She Loves Me“ den Taumel noch verstärkte, da war es auch um uns Zwölfjährige im Porzer Stadtgymnasium geschehen und um die Kinder und Jugendlichen aus unserem Viertel, den „Schlichtwohnungen“ in „Klein-Korea“ in Porz, seinerzeit noch aufstrebende Großstadt am südöstlichen Rand von Köln. Die „Fab Four“, John Lennon, Paul McCartney, George Harrison und Ringo Starr und sehr schnell auch ihre Epigonen bestimmten von Stund‘ an den musikalischen Geschmack in „Klein-Korea“, auch Kleidung, Habitus, Haarlänge, Benehmen, Schmuck, die Größe des Schlags an den Hosenbeinen, kurzum alles, was den Alltag pubertierender Bengels und Mädels so ausmachte. Der Stielkamm und das Kettchen am Arm waren ebenswenig wegzudenken aus dem Leben der Imitation der Idole, wie der Versuch, deren Texte zu durchschauen und sich deren Hintersinn anzueignen. Glückliche Zeit. Die Entfremdung von den Eltern, denen das alles zu neu, zu laut, zu ungewohnt, zu frech, zu unangepaßt war, wurde aufgewogen, aufgehoben von der großen Einigkeit der Jugend, der gemeinsamen Lebensidee, der geteilten Alltagskultur, der gemeinschaftlichen Abkehr von der Welt der Erwachsenen, von der Lust am Aufruhr, von der Entdeckung der Sexualität und Körperlichkeit. I Can Get No Satisfaction. Mit zwölf Jahren fing das alles an. Platten kaufen, Plattenspieler organisieren, Getränke besorgen, Feten feiern, unschuldig zunächst, voller Hingabe auch. Das pralle Leben wollte ergriffen sein. Später habe ich kaum je mehr gelernt fürs Leben an Umgangsformen, an Gemeinschaft, an Kultur, an Verständigung, an Kommunikation. An Musik, natürlich. 

In diese Welt des Zwölfjährigen, des Fünzehn- oder Siebzehnjährigen durfte ich wieder eintauchen, als mir vor ein paar Tagen mein Sohn Palle und seine Freundin Kathrin den wunderbaren Band „Get Back by The Beatles“ zum immerhin einundsiebzigsten Geburtstag schenkten. Sozusagen als Anlaß für eine Revue in die Jugendtage, in den Kulturschock: „Als wollten sie die Originalität der Beatles noch unterstreichen, kapierten versnobte Erwachsene einfach nicht, was sie auszeichnete. Noel Coward schrieb Neunzehnhundertfünfundsechzig in sein Tagebuch: ‚… Sonntagabend sah ich mir die Beatles an. Ich hatte sie nie zuvor leibhaftig erlebt. Der Lärm war von Anfang bis Ende ohrenbetäubend … ich war wahrhaftig entsetzt und schockiert über das Publikum. Es war wie eine massenhafte Masturbationsorgie.‘“ So heißt es in der bemerkenswerten Einleitung zu diesem wunderbar mit sprechenden Fotos der Beatles illustrierten Band von Hanif Kureishi unter dem Titel „All You Need“. Mit diesen verächtlichen Herabsetzungen dessen, was uns wichtig war, heilig, haben wir seinerzeit alle zu leben gelernt. „Wenn man wie ich in den Fünfzigerjahren aufwuchs, hatte man eine befremdliche Vorstellung von Kunst. (…) Die Botschaft war eindeutig: Kultur, egal welche, war eigentlich zu hoch für uns. Wir waren nicht diejenigen, für die sie gemacht war. Wobei wir Erwachsenen ohnehin misstrauten, da sie aus unserer Sicht ein größtenteils tristes und wenig beneidenswertes Leben führten. In der Schule und andernorts begegneten Erwachsene jungen Menschen mit Furcht und Neid, belächelten sie oder behandelten sie von oben herab. Was uns eigentlich als verlockende Zukunft hätte erscheinen sollen – eine Familie gründen und arbeiten gehen -, wirkte auf uns nicht sehr erstrebenswert. Und trotzdem sehnten sich junge Menschen – besonders, wenn sie Elvis oder Little Richard gehört hatten – nach einer Kunst, die sie in ihrer Frustration und ihren verwirrenden sexuellen Bedürfnissen begreifen konnten. Einer Kunst, die zu ihnen und über sie sprach, die ihnen Anlässe bot, sich auf die Zukunft zu freuen. Der Glaube an die Zukunft ist schließlich etwas sehr Kostbares. Und nichts, wozu man im Alleingang gelangt. Man braucht eine Gruppe, eine Bewegung, eine gemeinsame Kultur.“ Diese wenigen Sätze geben die Erwartungen sehr gut wieder, wie sie auch Kinder der hiesigen Unterschicht hatten. Man wird nicht alleine groß, erwachsen, klug oder umgänglich. Man braucht Freunde, eine Clique, Gleichgesinnte, Weggefährten. Man braucht gemeinsame Ziele, Idole, ähnliche Fragen, vergleichbare Ideen, Austausch, Freundschaft, Liebe, Kommunikation. Man braucht Spiritualität, Ergriffenheit, Religion, Gottesfurcht. Verstand. Führung. Nicht nur wir damals. Das gilt immer, ist universell. Man vergißt das nur allzu leicht. Ich danke Kathrin und Palle für die Zeitreise in mich selbst, die das tolle Beatles-Buch ausgelöst hat.

„Plötzlich tauchten im Fernsehen, in den Zeitungen und Zeitschriften diese jungen Menschen auf – die Beatles und andere -, noch dazu mit seltsamen und faszinierenden Frisuren; ihre Musik lief im Radio. Vor allem in London, aber nicht nur dort, gab es auf einmal so etwas wie soziale Mobilität, die Möglichkeit zu entkommen, die Chance auf eine erfülltere Zukunft. Keine Privatschule und keine der großartigen britischen Universitäten hatte diese revolutionären Jungs hervorgebracht, sondern eine zerbombte Hafenstadt im Norden. (…) Für mich war das eine Offenbarung. In der Schule wollte man uns beibringen, dass wahre Kunst, selbst wenn sie langweilig war, der moralischen Erbauung dienen und uns zu besseren Menschen machen sollte – zu kultivierteren, bewussteren und anspruchsvolleren Menschen, die mit vornehmerem Akzent sprachen. Bildung würde uns den Weg dorthin weisen. Autoritäten erklärten uns unaufhörlich, welche Veranstaltungen wir besuchen sollten, worauf es wirklich ankam und was wertlos sei. Was als Kultur galt, wurde stets streng reguliert und kontrolliert. Ihre Grenzen überwacht. Überschreiten durfte man diese nur auf eigene Gefahr. Würden die Grenzen wegfallen, bräche schließlich Chaos aus – oder etwa nicht? Die Fünfzigerjahre kurz nach dem Krieg waren eine Zeit der Verknappung gewesen und auch an Kunst herrschte Mangel. Nicht alle durften welche haben. Nicht alle konnten sie verstehen. Du jedenfalls nicht. Und auch sonst niemand wie du, von deiner Sorte und deiner sozialen Herkunft.“ Die Beatles und hernach die vielen anderen Bands und Musiker halfen uns, in England wie auch in Porz, die sozialen Barrieren zu überschreiten, Grenzen einzureißen, Trennendes zu überwinden. Uns loszusagen von den Eltern. Auf die eigene Kraft zu vertrauen. Den eigenen Standpunkt einzunehmen. Man selbst zu werden. Wir hatten es, wir Zwölf- bis Siebzehnjährigen, soviel einfacher als unsere Eltern. Mit den vier Jungs aus Liverpool und denen, die ihnen vorangingen und ihnen folgten.

Karten über Sprache

Nach ewig langer Zeit, ist’s ein Jahr? Länger? Bestimmt!, habe ich gestern meinen Sohn und seine Freundin besucht, in Moers, der schönen Hanns-Dieter-Hüsch-Stadt am linken Niederrhein. Hüsch, der ach so genaue Beobachter und virtuose Sprachschöpfer, stammt von dort. Und so habe ich etwas mit nach Hause genommen, nach Wermelskirchen.

Ein Buch über Sprache. Eines zudem, das aus wenig Sprache und vielen Bildern und Karten besteht. Über Sprache. In Japan sagen Verliebte zärtlich “Eierkopf” zueinander. Doch. Und überall auf der Welt heißt die Mama Mama. Fast. Auf Georgisch heißt sie Papa. Beispiele nur von vielen erhellenden, belustigenden, informativen oder unterhaltsamen Fakten aus dem Bereich der Sprache. Wie heißt “Wau-Wau” auf finnisch oder spanisch? Welche verrückten Ortsnamen gibt es alles in Deutschland. Wieviele europäisch anmutende Ortsbezeichnungen gibt es in Ohio? Das muß man nicht alles wissen. Aber es macht Spaß, es zu erfahren.

Wo werden von wem welche Formen der Anführungszeichen genutzt? Baden-Württenberger schlafen unter dem Teppich, während alle anderen in Deutschland das unter einer Decke machen. Wo pellt sich die Haut und wo schält sie sich? Es gibt Informationen über Fremdwörter, Alphabetisierungsraten, Lehnwörter, die Häufigkeit von Nachnamen. Droge und Depression haben die Deutschen dem Französischen entnommen. Wie erotisch, Nippes, Plüsch oder Plörre. Der Scheck stammt aus dem Arabischen, das Kompliment ist spanisch, der Spaß italienisch, wie kann es anders sein?, und die Droschke russisch.

Wo heißt der Fußball auf der Welt Soccer und wo heißt man ihn Football? In diesem tollen Buch kann man erfahren, erlesen, wie die ursprüngliche Bedeutung europäischer Städtenamen war. Paris etwa die Stadt der Bootsleute. Gewußt? London war das Dorf am breiten Fluß, der Ort am Sumpf. Was heißt hier war? Kurzum: Ein tolles Buch, grandios illustriert, allerbestens ausgesucht, ein Genuß, Quell für gute Laune, allerbester Gesprächsanlaß.

Weißt Du eigentlich, daß in Persien eine Koseansprache von Verliebten lautet: Möge eine Maus dich fressen? Und Unverpacktladen ist eine Sprachschöpfung aus dem Jahr 2019. Danke Kathrin, Danke Palle.

Notiz an mich: Notizzettel kaufen

Wie ich an die Kulturgeschichte des Notizzettels geriet

„Auch Friedrich Engels war am Ende seines Lebens so schwer an dem tückischen Krebs erkrankt, dass er, Autor von Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft und neben Karl Marx Mitverfasser des Kommunistischen Manifests, am Ende seiner schriftstellerischen Laufbahn nicht mehr voluminöse Bücher, sondern nur noch Notizzettel schrieb, wenn er etwas mitzuteilen hatte. Notizzettel können also, (…), der letzte Anker sein, um menschliche Kommunikation aufrechtzuerhalten.“

Ein Zitat, heute vormittag auf einer Internetseite gelesen, ich weiß wirklich nicht mehr, wohin mich das vormittägliche Surfen geführt hatte, dieses Zitat also machte mich neugierig. Engels, ein Gelehrter auch der Sprache, des guten Ausdrucks, der schönen Formulierung, teilt sich mittels Zettel mit am Ende seines Lebens. Das ist mir, der ich doch schon viele Jahre von Friedrich Engels auf gute Weise begleitet werde, vollkommen unbekannt geblieben. Der Entdecker dieses, wie soll man sagen? Umstandes? dieses Schicksals, Hektor Haarkötter, teilt seine Erkenntnis in einem frisch erschienen Buch mit dem schlichten Titel “Notizzettel” mit. Haarkötter hat, vor seiner Tätigkeit als Hochschullehrer und Kommunikations- und Medienwissenschaftler, als Journalist gearbeitet, auch fürs Fernsehen, als ich noch beruflich tätig war mit meiner Firma, ebenfalls für Rundfunkanstalten. So haben sich die Wege seinerzeit gekreuzt und jetzt kreuzen sie sich wieder, virtuell, als Buch und Text, als Blog und Notiz. Notiz an mich: Notizzettel kaufen. Das war der Eintrag auf dem virtuellen Post-it, das ich dann angelegt habe, dem Notizzettel im Tablet, der mir hilft, schnelle Einfälle nicht zu vergessen, Ideen zu notieren, einen flüchtigen Gedanken festzuhalten.

Notiz an mich. Gedacht, geschrieben getan. Meine Buchhandlung hier am Ort, die Buchhandlung van Wahden am Markt, dürfte das Buch nicht vorrätig haben. Nahm ich an. Ist ja auch keine Universitätsbuchhandlung. Eine Untersuchung mit dem Untertitel “Denken und Schreiben im einundzwanzigsten Jahrhundert” muß gewiß bestellt werden. Von wegen. Ein Anruf. Dann war klar. Das Buch ist da. Also gekauft und begonnen zu lesen. „’Ein Zettel ist ein kleines, meist loses Stück Papier'”, heißt es in einer der seltenen definitorischen Bemühungen um den Notizzettel, nämlich der Online-Enzyklopädie Wikipedia.“ Schreibt Hektor Haarkötter. Und der Verlag beschreibt die Haarkötterschen Notizzettel folgendermaßen: „Notizzettel sind Einkaufszettel, Spickzettel, Schmierzettel, Skizzen, Karteikarten, Post-its. Sie halten Flüchtiges für das Gedächtnis fest und sind doch provisorisch, unkompliziert und vorläufig – sie organisieren Wissen. Erstmals erzählt Hektor Haarkötter die Kulturgeschichte des Notizzettels von den Anfängen bis heute und formuliert gleichzeitig dessen Theorie: Ob als politisches Kommunikationsmedium der RAF-Gefangenen, als Strukturgerüst von Literatur, als Laborbuch der Naturwissenschaften oder als Link im Internet: Der Notizzettel ist ein Aufschreibesystem, Hard- und Software in einem und: ein Vergessensmedium. Seine Bedeutung für die Kulturgeschichte des Denkens ist nach der Lektüre dieses Buches nicht mehr zu unterschätzen.“

Wer das Buch nach diesem Waschzetteltext – schon wieder ein Wort, in dem der Zettel steckt: gemeint ist der Kurztext, der von Verlagen beispielsweise Redaktionen zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt wird – nicht haben will und kauft, dem ist nicht zu helfen. Kulturgeschichte des Notizzettels. Vergessensmedium. Wissensorganisation.

„Es scheint auf den ersten Blick keine sehr gute Idee zu sein, das Wertvollste, was wir haben, unsere Gedanken, dem flüchtigsten Medium anzuvertrauen, das es seit Menschengedenken gibt, dem Notizzettel. Der Notizzettel ist so vergänglich wie die Gedanken selbst. So schnell, wie er zur Hand ist, so schnell ist er auch wieder fort. Wo habe ich mir das noch mal aufgeschrieben? Der Notizzettel hat viele Orte, die alles eines gemein haben: aus dem Auge, aus dem Sinn. Er teilt damit den Friedhof alles Überflüssigen und alles Unangenehmen: das Vergessen – was, nebenbei bemerkt, ein denkbarer Beleg dafür ist, dass alles Unangenehme überflüssig ist. Notizzettel auf Kühlschranktüren, Notizzettel an Toilettenspiegeln, Notizzettel auf Landkarten, Einsatzplanungswänden und Spindtüren, Notizzettel mit Klebestreifen, gelocht und beringt, Notizzettel auf Blöcken, in losen Blättern, in Karteikästen oder in ihrer edelsten Form: als Notizbuch, das für seinen Besitzer einen so enormen Wert haben kann, dass etwa der Schriftsteller Bruce Chatwin im Verlustfall einen gigantischen Finderlohn auslobte.“

Vernachlässigt sei, so Hektor Haarkötter, der Notizzettel, das “unbeschriebene Blatt oder gar nur ein Teil davon, eine Karte, ein Fetzen, ein Ausriss oder ein Schnipsel“. Und dieser Vernachlässigung entreißt der Autor den Zettel, untersucht die Notiz, würdigt sie, ja: adelt ihn, den Notizzettel. Er beschreibt die Kulturgeschichte und entwickelt eine Theorie der Notiz, bevor er sich der Frage zuwendet, ob und wie sich das Notieren in einer digitalen Informationsgesellschaft verändert.

Auf 558 Seiten. Gewiß keine Magerkost. Ein dickes Buch über die kleine und und dünne Notiz. Wissenschaft, aber in journalistischer Sprache, verstehbar, mit Witz und Esprit erzählt. Notiz an alle, die Spaß an der Sprache habe: Notizzettel kaufen. Von Hektor Haarkötter.

Eric Carle

Eric Carle ist tot. Einundneunzig Jahre alt. Der Name ist womöglich vielen nicht präsent. Seine Schöpfungen allerdings, die bleiben in den Köpfen und Herzen. Die kleine Raupe Nimmersatt zum Beispiel. Die bekamen und bekommen viele Kinder von ihren Eltern geschenkt, damals wie heute, seit vielen Jahrzehnten. Geschaffen von Eric Carle. Wie Varus der Grillerich, der keinen Ton herausbringt, bis er die Richtige trifft oder ein Samenkorn auf Reisen. Alles Carlesche Schöpfungen. Vor sieben Jahren habe ich schon einmal etwas über die weltberühmte Raupe geschrieben. Damals habe ich das Kinder-Bilder-Buch für ein Nachbarskind gekauft, für Frida, heute ein Schulkind, das anderswo in Wermelskirchen wohnt. Und dabei habe ich mich dann über den Marktplatz ausgelassen, an dem die Buchhandlung sich befindet, und der kein Marktplatz ist, weil ihm alles fehlt, um Markt zu machen. Kann man so heute noch lesen. Wenn Eric Carle der Anlaß ist, sich Gedanken über den Marktplatz im Wermelskirchen zu machen, ist das gut.

The Hill We Climb

Lady Gaga war, Jennifer Lopez, manch anderer weltbekannter Künstler auch bei der Inauguration von Joe Biden zum sechsundvierzigsten Präsidenten der USA. Kultur ist nun wieder angesagt in Capitol und Weißem Haus. Die zweiundzwanzigjährige Amanda Gorman, Zweitausendundsiebzehn von der US-Kongressbibliothek mit dem Titel „National Youth Poet Laureate“ geehrt, hat gestern mit ihren Worten die ganze Welt bewegt. “The Hill We Climb”

Mr. President, Dr. Biden, Madam Vice President, Mr. Emhoff, Bürger Amerikas und der ganzen Welt,

Wenn es Tag wird, fragen wir uns,
wo wir Licht zu finden vermögen, in diesem niemals endenden Schatten?
Den Verlust, den wir tragen,
ein Meer, das wir durchwaten müssen.
Wir haben dem Bauch der Bestie getrotzt.
Und wir haben gelernt, dass Ruhe nicht immer Frieden bedeutet.
Und dass die Normen und Vorstellungen von dem, was gerecht ist,
nicht immer Gerechtigkeit ist.
Und doch gehört die Morgendämmerung uns,
noch ehe wir es wussten.
Irgendwie schaffen wir es.
Irgendwie haben wir es überstanden und bezeugten
eine Nation, die nicht kaputt ist,
sondern einfach unvollendet.
Wir, die Nachfahren eines Landes und einer Zeit,
in der ein dünnes, schwarzes Mädchen,
das von Sklaven abstammt und von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen wurde,
davon träumen kann, Präsidentin zu werden,
nur um sich selbst in einer Situation zu finden, in der sie für einen vorträgt.
Und ja, wir sind alles andere als lupenrein,
alles andere als makellos,
aber das bedeutet nicht, dass wir uns bemühen,
eine Gemeinschaft zu bilden, die perfekt ist.
Wir bemühen uns, eine Einheit zu erreichen, die ein Ziel hat.
Ein Land zu erschaffen, das sich allen Kulturen, Farben, Charakteren und menschlichen Lebensverhältnissen verpflichtet fühlt.
Und so richten wir unsere Blicke nicht auf das, was zwischen uns steht,
sondern auf das, was vor uns steht.
Wir schließen die Kluft, weil wir wissen, dass wir, um unsere Zukunft an erste Stelle zu setzen,
zuerst unsere Differenzen beiseitelegen müssen.
Wir legen unsere Waffen nieder,
damit wir unsere Arme
nacheinander ausstrecken können.
Wir wollen niemandem schaden und Harmonie für alle.
Lasst die Welt, wenn sonst auch sonst nichts, sagen, dass dies wahr ist:
Dass wir, selbst als wir trauerten, wuchsen
Dass wir, selbst als wir Schmerzen hatten, hofften
Dass wir, selbst als wir ermüdeten, es weiter versucht haben
Dass wir für immer verbunden sein werden, siegreich
Nicht weil wir nie wieder eine Niederlage erleben werden,
sondern weil wir nie wieder Spaltung säen werden.
Die Heilige Schrift sagt uns, dass wir uns vorstellen sollen,
dass jeder unter seinem eigenen Weinstock und Feigenbaum sitzen soll
und keiner ihnen Angst machen soll.
Falls wir unserer eigenen Zeit gerecht werden,
dann wird der Sieg nicht in der Klinge liegen,
sondern in all den Brücken, die wir gebaut haben.
Das ist das Versprechen:
Der Hügel, den wir erklimmen,
wenn wir uns nur wagen,
denn Amerikaner zu sein, ist mehr als ein Stolz, den wir erben,
es ist die Vergangenheit, in die wir treten,
und wie wir sie reparieren.
Wir haben eine Macht gesehen, die unsere Nation eher zerstören würde,
als sie zu heilen,
unser Land zu zerstören, wenn es dazu führe, Demokratie zu verzögern.
Und dieser Versuch war fast erfolgreich.
Doch auch wenn Demokratie von Zeit zu Zeit verzögert werden kann,
kann sie niemals dauerhaft besiegt werden.
In diese Wahrheit,
in diesem Glauben, vertrauen wir.
Denn obwohl wir unsere Augen auf die Zukunft richten,
hat die Geschichte ihre Augen auf uns gerichtet.
Dies ist die Ära gerechter Wiedergutmachung.
Wir fürchteten zu Beginn,
wir fühlten uns nicht bereit, Erben
einer solch schrecklichen Stunde zu sein,
doch in ihr fanden wir die Kraft,
ein neues Kapitel zu schreiben,
uns selbst Hoffnung und Lachen zu schenken.
Also während wir uns einst fragten,
wie wir jemals diese Katastrophe überstehen könnten,
fragen wir jetzt:
Wie könnte eine Katastrophe jemals uns überstehen?
Wir werden nicht zurück zu dem marschieren, was war,
sondern auf das zugehen, was sein wird.
Ein Land, das zwar verletzt, aber dennoch intakt ist,
gütig, aber kühn
wild und frei.
Wir werden uns nicht umdrehen
oder durch Einschüchterung unterbrechen lassen,
weil wir wissen, dass unsere Untätigkeit und Trägheit
das Erbe der nächsten Generation sein wird.
Unsere Fehler werden zu ihren Lasten.
Aber eines ist sicher:
Wenn wir Barmherzigkeit mit Macht verbinden
und Macht mit Recht,
dann wird Liebe unser Vermächtnis
und Veränderung das Geburtsrecht unserer Kinder.
Also lasst uns ein Land hinterlassen,
das besser ist als das, welches uns hinterlassen wurde.
Mit jedem Atemzug aus meiner bronzegegossenen Brust,
werden wir diese verwundete Welt in eine wundersame verwandeln.
Wir werden uns von den goldbeschienenen Hügeln des Westens erheben,
wir werden uns aus dem windgepeitschten Nordosten erheben,
in dem unsere Vorfahren zum ersten Mal die Revolution verwirklichten,
wir werden uns aus den von Seen gesäumten Städten des Mittleren Westens erheben,
wir werden uns aus dem sonnengebrannten Süden erheben,
wir werden wieder aufbauen, uns versöhnen und erholen,
und jeden bekannten Winkel unserer Nation und
jede Ecke, die unser Landes genannt wird.
Unser Volk, vielfältig und schön, wird aufstreben,
zerschunden und schön.
Wenn der Tag kommt, treten wir aus dem Schatten heraus,
entflammt und ohne Angst.
Die neue Morgendämmerung erblüht, wenn wir sie befreien.
Denn es gibt immer Licht,
wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen,
wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein.

„The hill we climb“ (Originalversion)
When day comes we ask ourselves,
where can we find light in this never-ending shade?
The loss we carry,
a sea we must wade
We’ve braved the belly of the beast
We’ve learned that quiet isn’t always peace
And the norms and notions
of what just is
Isn’t always just-ice
And yet the dawn is ours
before we knew it
Somehow we do it
Somehow we’ve weathered and witnessed
a nation that isn’t broken
but simply unfinished
We the successors of a country and a time
Where a skinny Black girl
descended from slaves and raised by a single mother
can dream of becoming president
only to find herself reciting for one
And yes we are far from polished
far from pristine
but that doesn’t mean we are
striving to form a union that is perfect
We are striving to forge a union with purpose
To compose a country committed to all cultures, colors, characters and
conditions of man
And so we lift our gazes not to what stands between us
but what stands before us
We close the divide because we know, to put our future first,
we must first put our differences aside
We lay down our arms
so we can reach out our arms
to one another
We seek harm to none and harmony for all
Let the globe, if nothing else, say this is true:
That even as we grieved, we grew
That even as we hurt, we hoped
That even as we tired, we tried
That we’ll forever be tied together, victorious
Not because we will never again know defeat
but because we will never again sow division
Scripture tells us to envision
that everyone shall sit under their own vine and fig tree
And no one shall make them afraid
If we’re to live up to our own time
Then victory won’t lie in the blade
But in all the bridges we’ve made
That is the promise to glade
The hill we climb
If only we dare it
because being American is more than a pride we inherit,
it’s the past we step into
and how we repair it
We’ve seen a force that would shatter our nation
rather than share it
Would destroy our country if it meant delaying democracy
And this effort very nearly succeeded
But while democracy can be periodically delayed
it can never be permanently defeated
In this truth
in this faith we trust
For while we have our eyes on the future
history has its eyes on us
This is the era of just redemption
We feared at its inception
We did not feel prepared to be the heirs
of such a terrifying hour
but within it we found the power
to author a new chapter
To offer hope and laughter to ourselves
So while once we asked,
how could we possibly prevail over catastrophe?
Now we assert
How could catastrophe possibly prevail over us?
We will not march back to what was
but move to what shall be
A country that is bruised but whole,
benevolent but bold,
fierce and free
We will not be turned around
or interrupted by intimidation
because we know our inaction and inertia
will be the inheritance of the next generation
Our blunders become their burdens
But one thing is certain:
If we merge mercy with might,
and might with right,
then love becomes our legacy
and change our children’s birthright
So let us leave behind a country
better than the one we were left with
Every breath from my bronze-pounded chest,
we will raise this wounded world into a wondrous one
We will rise from the gold-limbed hills of the west,
we will rise from the windswept northeast
where our forefathers first realized revolution
We will rise from the lake-rimmed cities of the midwestern states,
we will rise from the sunbaked south
We will rebuild, reconcile and recover
and every known nook of our nation and
every corner called our country,
our people diverse and beautiful will emerge,
battered and beautiful
When day comes we step out of the shade,
aflame and unafraid
The new dawn blooms as we free it
For there is always light,
if only we’re brave enough to see it
If only we’re brave enough to be it.

Zauberhafte Umstandswörtchen

Umstandswörtchen. Hat man schon einmal eine eine zärtlichere Hommage an Adverbien lesen können? Leichthin, Vielerorts, Schlichterdings. Georg Klein sei Dank. Und den Machern des Werkes “Die Wunderkammer der Deutschen Sprache”.

Thomas Böhm und Carsten Pfeiffer (Hrsg.) • Die Wunderkammer der Deutschen Sprache. Gefüllt mit Wortschönheiten, Kuriositäten, Alltagsposie und Episoden der Sprachgeschichte • Verlag das Kulturelle Gedächtnis GmbH Berlin Zweitausendzwanzig • 978-3-946990-31-4 • Dreihundert Seiten • Achtundzwanzig Euro