Monat: April 2015

Mitschuldig

Vom “Massensterben” schreibt heute um neun Minuten nach sechs Uhr, eben also erst, die Onlineausgabe der Süddeutschen Zeitung. Und von der “bislang schwersten Flüchtlingskatastrophe”.   Spiegel Online berichtet vor vier Stunden von einem erneuten “Flüchtlingsunglück”. Andere Medien verwenden die Floskel vom “Schiffsunglück”, der Cicero beispielsweise. Doch nirgendwo in den großen Medien lese ich, daß es sich um staatlich organisierten Massenmord an Flüchtlingen handelt. Lediglich in Blogs sind heute die unangenehmen Wahrheiten zu finden.

Das Mittelmeer ist mittlerweile das größte Massengrab der Welt. Zehntausende Menschen sind beim Versuch, es zu überqueren um nach Europa zu gelangen, gestorben. Genauer: Sie wurden ermordet. Selbstverständlich hätte Europa die Mittel, um dieses Massensterben zu beenden. Europa will aber nicht. Man lässt die Leute verrecken, um andere abzuschrecken. Das ist Mord und nichts anderes. Massenmord. Vielleicht werden uns unsere Kinder oder Enkel einst fragen, warum wir nichts dagegen unternommen hätten. Wir werden keine Antwort haben.

 

Das ist im Lindwurm-Blog von Berhard Torsch zu lesen. Weiter heißt es unter anderem:

Das Mordhandwerk Europas beschränkt sich nicht nur auf das Ertränken von Bootsflüchtlingen. Es setzt schon viel früher an, denn Europa ist vielfach ursächlich schuld daran, dass Menschen in Massen aus ihrer Heimat fliehen, weil die Zustände dort so dermaßen elend, gefährlich und hoffnungslos sind, dass selbst das sehr wohl allgemein bekannte Risiko einer Flucht auf den Todesbooten dagegen wie eine Verheißung wirkt. In den vergangenen 20 Jahren haben europäische Mächte und die USA (und jüngst auch China und Russland) in Afrika sowie im Nahen und Mittleren Osten einen Konflikt nach dem anderen angeheizt, haben Regierungen gestürzt und Rebellengruppen unterstützt. Das ist an sich noch nicht einmal falsch, aber man hat sich jedes einzelne Mal aus der Verantwortung gestohlen statt welche zu übernehmen.

 

Im Blog von Erik Flügge ist ebenfalls die ganze schreckliche Wahrheit zu lesen:

700 Menschen sind im Mittelmeer ertrunken. Es sind Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa. Ich habe sie sterben lassen, genau wie Du. Die Not, die sie fliehen lässt, kaufen wir ein. Es sind unsere Supermärkte und Kleidungsläden, die das Elend in die Welt tragen. Die Kriege, vor denen sie fliehen, befeuern wir mit Waffen. Kaum ein anderes Land verkauft so viele Handfeuerwaffen wie Deutschland. Keine Waffengattung bringt mehr Menschen um, als der deutsche Exportschlager. Nach dem Ende der DDR haben wir Prozesse gegen Mauerschützen geführt. Sie hatten die Befehle ihrer Diktatur befolgt. Dennoch, wir sprachen ihnen Verantwortung zu, weil sie am Töten beteiligt waren. Im Mittelmeer sind wir selbst am Töten beteiligt. Es ist unser Staat und unsere EU, die die Rettung aus dem Meer verweigern. Regierungen, denen wir diese Haltung erlauben, weil uns Flüchtlinge so egal sind. Das deutsche Volk nimmt schulterzuckend die Sterbenden in kauf. Unsere Ignoranz ermöglicht erst das Sterben. (…) Es ist meine Ignoranz und Deine Ignoranz, die Europas herzlose Grenze herzlos bleiben lässt. (…) So lange ich die Antwort nicht gebe und lebe und so lange Du die Antwort nicht gibst und lebst, sind wir auch mitschuldig an 700 Toten.

Liebe

Und dann? Dann sucht man den Text zur musikalischen Fundsache. Und? Es stellt sich heraus, daß der formidable Tatortsong von gestern einst komponiert worden ist von der Mutter und der Tante der Sängerin Martha Wainwright. Kate und Ann Mcgarrigle. Kanadische Folkgrößen. Deren Platte habe ich mir mit vierundzwanzig zugelegt. Danach aber nicht mehr oft gehört. Leider. Jetzt aber. Worum geht’s? Um Liebe, wie immer.

Vom Kühlschrank und vom frischen Wind im Blätterwald

Lokalzeitungen leiden Not. Immer weniger festangestellte Redakteure müssen die lokale Berichterstattung mit Hilfe von freien Mitarbeitern sicherstellen. Mein Heimatblatt, der Wermelskirchener General-Anzeiger, liefert mir, so wie vor vierunddreißig Jahren schon, Tag für Tag drei Lokalseiten. Immerhin. Früher aber waren, wenn ich das richtig sehe, dreimal soviele Festangestellte für das Blatt verantwortlich wie heutzutage. Die schreibenden Kollegen, Redakteure und freie Mitarbeiter, tragen an dieser Entwicklung keine oder nur die geringste Schuld. Sie baden aus, was Verlage und Verleger an Konzepten entwickelt oder vielleicht auch nicht entwickelt haben, um dem Kostendruck zu entgehen. Zeitungen und Zeitschriften stehen nicht mehr nur in Konkurrenz zu den hergebrachten elektronischen Medien. Auch die ausgesprochen attraktiven und superschnellen Informationsquellen aus den digitalen Ecken der Internetwelt, Texte, Bilder, Filme, soziale Netzwerke, Grafiken, Tweets, Animationen, Blogs, in Sekundenbruchteilen und aus dem ganzen Erdkreis zusammengesucht, lassen lokale Zeitungen mitunter als fußkrankes Relikt aus der Informationssteinzeit erscheinen. Wenn aber die Kommune, das lokale Gemeinwesen gleichsam als Wiege der Demokratie begriffen werden kann, als überschaubarer Nahraum, in dem Bürger leichter mit validen und kritischen Informationen über ihre unmittelbaren Lebenszusammenhänge Einfluß auf die Gestaltung von Politik, Kultur und gesellschaftlichem Leben nehmen können als etwa im Bundesland oder gar der ganzen Republik, dann ist eine hochprofessionelle Presse, dann sind gute Recherche und profunde Kritik, dann ist eine gut geschriebene, unterhaltsame und unabhängige Lokalpresse wichtiger denn je. Und, fast ebenso bedeutsam, auch ein tragfähiges Konzept, wie denn lokale Information ihren angemessenen Platz auch in der digitalen Informationswelt finden und behaupten kann. Tja, soweit die Grundüberlegung. Die Wirklichkeit aber hält sich leider nicht an grundsätzliche Einschätzungen. Meine lokale Zeitung jedenfalls kämpft gegen den Bedeutungsverlust. Mit drei Seiten täglich. Drei Seiten, vor allem von freien Mitarbeitern zusammengetragen. Da finden sich, neben Wichtigem, der tägliche Blick über den Stadtrand nach Burscheid ebenso wie die Rubrik: “Was macht eigentlich …?” oder die berüchtigten “Zehn Fragen”, regelmäßig gestellt an vermeintliche Lokalprominenz. “Was darf keinesfalls in Ihrem Kühlschrank fehlen?” oder “Welcher Prominente könnte Ihrer Meinung nach für frischen Wind im Stadtrat sorgen?” Quark. Auf der ganzen Linie Quark, nicht nur im Kühlschrank. Stefan Raab könnte für frischen Wind im Rat sorgen. Sagt mir der Tanzschulbesitzer. Na, die Zeiten sind ja wohl vorbei, daß Raab für Frische sorgte. Gottlob. Und warum der Tanzschulbesitzer? Hier wird auf Teufel komm raus zur Lokalprominenz hochgejazzt, wer auch nur das Wasser nicht halten kann. Mal ganz ehrlich: Das will ich alles gar nicht lesen. Vermeintlich unterhaltsames Zeugs, ohne auch nur jeden Informationswert, nur damit die drei Seiten gefüllt werden. Gebt mir jeden Tag nur zwei gute Lokalseiten, dann will ich meine Zeitung auch behalten und gut für sie zahlen. Zwei gute Seiten, pfiffig und unterhaltsam geschrieben, über Politik, Kultur, Alltag, mit harten Informationen aus allen Bereichen der Stadt, mit Terminen, Events, Berichten aus allen Ecken der Kommune, mit gesalzenen Kommentaren, zwei Seiten die Lust machen auf Wermelskirchen, die den Zusammenhang der Menschen hier fördern, die über das Gemeinwesen berichten, sich keiner Autorität beugen, frei und unabhängig geschrieben, zwei Seiten, die klug werten, die kritisieren, was schief läuft, immer den Finger in die vielen Wunden legen. Diese zwei Seiten wären es schon wert, den gleichen Preis zu zahlen wie bislang. Auch für einen Mantel, also für die Seiten mit Politik, Sport, Wirtschaft, Hier und Heute, die erkennbar von vorgestern sind. In diesem Mantel, von der Westdeutschen Zeitung geliefert, kann ich, zugespitzt formuliert, heute gedruckt finden, was gestern schon im Internet und den großen Zeitungen zu lesen war, also vorgestern passiert ist. Ein Drittel weniger Lokalzeitung, dafür ein bis zwei Drittel besser, mutiger, schlauer, kompromißloser, entschiedener, samt der nur erträglichen Mantelseiten, das könnte gleichwohl die bessere Zeitung sein. Wenn der Verlag auch ein digitales Angebot machte. Ein Angebot. Nicht nur die Ankündigung, demnächst die gedruckten Beiträge gegen Bezahlung auch im Internet in digitaler Form finden zu können. Da muß mehr her. Da müssen Foren eröffnet werden, Dialoge und Kommentare möglich sein, ein Gespräch mit dem Leser, Zusatzinformationen geboten werden, Hintergründe, da muß aktueller noch als bei gedruckten Tageszeitungen Lokales publiziert werden, da müssen Videos und Bilderstrecken textliche Informationen ergänzen, was auch immer. Von einem solchen Konzept habe ich noch nichts lesen können. Leider. Als Antwort auf die Krise hören wir nur noch: Sparen. An Menschen. An Kosten. Nie aber: Besser werden, interessanter, klüger, Neues ausprobieren, experimentieren, versuchen, lernen. Wer all das nicht unternimmt, wird scheitern.

Kein-Hausarbeit-Tag

Heute bleibt der Staubsauger in der Ecke und das Wischtuch hat Pause. Heute ist nämlich der “Keine-Hausarbeit-Tag”. Die Botschaft ist eindeutig: an diesem Tag wird kein Finger im Haushalt gerührt! Kein Putzen, kein Wäschewaschen, keine Reparaturen und eigentlich auch kein Kochen … Hausarbeit. Welch schönes Wort für so viele unterschiedliche häusliche Tätigkeiten: Aufräumen, Putzen, Waschen, Kochen, Einkaufen, Tapezieren, Spülen, Reparieren, Backen. Undsoweiter. Die von Hausfrauen, soll ich die Hausmänner wirklich als vergleichbare Größe erwähnen?, geleistete Hausarbeit ist keine Arbeit im Sinne deutschen Arbeitsrechts. Sie wird weder entlohnt, noch ist sie sozialversicherungspflichtig. Fünfunddreißig Stunden wenden Frauen für diese Hausarbeit durchschnittlich in der Woche auf. Männer dagegen kommen auf lediglich siebzehn Stunden. Dem Ehepaar Tom und Ruth Roy verdanken wir diesen kuriosen Feier- bzw. Aktionstag. Und nicht nur den. Die beiden haben über achtzig dieser kuriosen Tage kreiert. Etwa den Tag der sinnlosen Anrufbeantworternachrichten am dreißigsten Januar. Oder den internationalen Tag der Frustschreie am zwölften Oktober.

Zur Demokratie-Debatte

Dieses (unser demokratisches Gemeinwesen, W.H.) leidet seit Längerem an sehr unterschiedlichen Entwicklungen, die sich negativ auf seinen Zusammenhalt auswirken. Die Wahlbeteiligung auf allen staatlichen Ebenen sinkt, die Mitgliederzahlen insbesondere der Volksparteien nehmen ab und das Vertrauen in die politischen Entscheidungsträger des Landes schwindet spürbar. (…) Zudem sind es vor allem bildungsferne und einkommensschwache Gruppen in der Bevölkerung, die sich von der Politik abwenden und unser Gemeinwesen auf den Weg in die „Zwei-Drittel-Demokratie“ schicken. Ohne den Begriff der Krise überstrapazieren zu wollen, kann man an unserem politischen Gemeinwesen Tendenzen konstatieren, die Partizipation, Repräsentation und Inklusion als Kernfunktionen der Demokratie angreifen. Dies darf jedoch nicht als pauschaler Rückzug ins Private missverstanden werden, denn Umfragen und praktische Erfahrung belegen, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung ein höheres Maß an politischer Beteiligungs- und Mitsprachemöglichkeit gerade auch außerhalb von Wahlen wünscht. Hierbei geht es um eine breit verstandene bürgerschaftliche Teilhabe, die sich in zahlreichen, höchst unterschiedlichen Partizipationsformen niederschlägt. Trotz Ausweitung der bürgerschaftlichen Einflussmöglichkeiten lässt sich insgesamt ein Vertrauensverlust der Menschen in unser politisches System, den demokratischen Entscheidungsprozess und dessen Allgemeinwohlorientierung attestieren. (…) Das in der Vergangenheit immer wieder geäußerte Postulat, bestimmte Politiken seien „alternativlos“, hat dieses Gefühl mangelnder Einflussmöglichkeiten noch verstärkt. (…) Zur Frage, wie man das Zusammenwirken von Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft in der Formulierung und Umsetzung politischer Entscheidungen in transparentere Strukturen als bislang einbetten kann, existieren ganz unterschiedliche Ideen, die einer intensiveren Betrachtung wert wären, darunter etwa verpflichtende Offenlegungspflichten in Verbindung mit anreizgestützten und sanktionierbaren Verhaltensrichtlinien. Gleiches gilt für Maßnahmen zur Stärkung der Wahlbeteiligung sowie zur Frage, wie Volksparteien auf ihre zurückgehende Bindekraft reagieren sollen. Insbesondere diese suchen mittlerweile wieder verstärkt den direkten Dialog mit den Menschen vor Ort in ihrer Nachbarschaft. Dort laden sie zum Mitmachen ein, bieten vermehrt Hilfe zur Selbsthilfe anstatt standardisierter Problemlösungen an und reagieren damit unmittelbar auf die geänderten Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an demokratische Mitbestimmung und die Aufgabenwahrnehmung von Parteien. (…) Vertrauen, Teilhabe und Transparenz sind die Schlüsselwörter einer Debatte um die Weiterentwicklung und Stärkung unseres demokratischen Gemeinwesens, die zu einer besseren Legitimation von Politik beiträgt. (…) Deutschland braucht in seinem Parlament endlich eine breite Debatte über die Ursachen für die abnehmende Partizipation, die sinkende Repräsentation und die steigende Exklusion unserer Institutionen. Ziel muss es sein, im breiten parlamentarischen Konsens Vorschläge für die Weiterentwicklung unseres demokratischen Systems zu entwickeln.

Auszüge aus einem Beitrag von Hans-Jörg Schmedes und Fedor Ruhose unter dem Titel: Mehr Demokratie-Debatte ins Parlament, in: Carta vom siebenundzwanzigsten März Zweitausendundfünfzehn