Schlagwort: Freiburger Thesen

Göttliche Botin

Interessant. Da muß man ein linkes Blatt aufschlagen, um ein zaghaftes, ein zartes Stimmchen lesen zu können, das in der FDP anderes als nur den gegelten Mainstream von radikaler Marktwirtschaft, Freiheit vom nimmersatten Staat oder der Verachtung von Armen und Armut von sich gibt. “Wer die soziale Marktwirtschaft durch die Krise bringen will, muss den ungezügelten Kapitalismus zähmen, ohne dabei in Staatsgläubigkeit zu verfallen.” Das sagt in einem Gespräch mit dem Freitag die Europaabgeordnete der FDP, Nadja Hirsch. Sie ist seit dreizehn Jahren Mitglied der FDP und Mitbegründerin des “Dahrendorfkreises”. “Mein Verständnis eines ganzheitlichen Liberalismus hatte in dieser Zeit einen schweren Stand in der Partei. Aber die Herausforderung, dass sich das ändert, und die Chance, dass das auch gelingen kann, sind in Zeiten des Umbruchs so groß wie nie. (…) Diese Tradition hat in der Außenwahrnehmung der Partei lange kaum eine Rolle gespielt. Am deutlichsten ist diese Schwäche in der Ära von Guido Westerwelle zum Tragen gekommen, der die FDP zu einer monothematischen Organisation formte – und damit letztlich in die Krise führte.” Naja, vom Umbruch in der FDP ist nach dem Absturz in die 1,8%-Region nach der Berliner Landtagswahl noch nicht so sehr viel zu erkennen. Von Krise umso mehr.  “Das Problem der FDP ist, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden ist, Liberalismus und soziale Gerechtigkeit seien unvereinbar. Das ignoriert unsere programmatische Tradition: Die ‘Lebenschance’ für jeden ist unser Ziel, unabhängig von Geschlecht, familiärer Herkunft oder Nationalität. Freiheit gibt es nicht ohne Verantwortung auch der Stärkeren für die Schwächeren.” Gleichwohl. Einen solchen Satz hätte ich schon mal gerne vom Vorsitzenden der FDP gehört oder vom Generalsekretär der Partei gelesen. Das könnte womöglich als Zeichen für ein Umdenken gewertet werden, das einem Umbruch sicher vorauszugehen hätte. Aber Christian Lindner hat den Freiburger Thesen der FDP lediglich eine historische Bedeutung zugesprochen. Für Nadja Hirsch aber muß “die FDP (…) ihre Politik wieder auf das Fundament eines echten Liberalismus gründen, der Freiheits- und Teilhaberechte gleichermaßen berücksichtigt und der sich den neuen Fragen zuwendet, die eine Gesellschaft stellt. (…) Die FDP der Freiburger Thesen war eine Partei, die für soziale Verantwortung und Chancengleichheit, für Bildungsgerechtigkeit und Mitbestimmung stand.”  Nun denn. Im Shintoismus gelten Hirsche als göttliche Boten. Nehmen wir Nadja Hirsch als göttliche Botin eines erneuerbaren Liberalismus.

Fürs FDP-Stammbuch

“Nur der Staat ist effizient, der sich auf seine Kernaufgaben konzentriert und sich nicht verzettelt. Ein effizienter Staat regelt das notwendige und überlässt den Bürgern Spielräume. Ein Staat bleibt nur dann effizient, wenn er sich finanziell nicht überhebt, bezahlbar bleibt und auch für kommende Generationen Spielräume ermöglicht.” So zu lesen im Programmentwurf der FDP zur Landtagswahl 2010. Von dieser Formulierung ist es in der Tat nicht weit zur verächtlichen Wertung des liberalen Generalsekretärs, Christian Lindner, für den der Staat lediglich ein “teurer Schwächling” ist. Für Friedrich Naumann, dessen Namen die FDP-nahe Stiftung trägt, war das Staatsverständnis: 1. Der Staat sind wir alle; 2. der Staat darf nicht alles. Viel Später, in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschrieb ein anderer großer Denker der Liberalen, Karl Hermann Flach, Generalsekretär der FDP und mithin einer der Vorgänger von Lindner, sein Staatsverständnis so: “Freiheit bedeutet für den modernen Liberalismus, wie er bei John Stewart Mill in England und bei Friedrich Naumann in Deutschland erstmals in Gedanken gefaßt ist, nicht länger die Freiheit eines aus der Gesellschaft herausgedachten, dem Staate entgegengesetzten autonomen Individuums, sondern die Freiheit jenes autonomen und sozialen Individuums, wie es als immer zugleich einzelhaftes und gesellschaftliches Wesen in Staat und Gesellschaft wirklich lebt.” Dieser Satz hatte sogar Eingang in das Programm der Liberalen gefunden. Die geschichtliche Leistung des Liberalismus sei, so Flach weiter, die Freisetzung des Menschen für die Entwicklung der modernen Industriegesellschaft. Der Kapitalismus habe, gestützt auf Wettbewerb und Leistungswillen des Einzelnen, zu großen wirtschaftlichen Erfolgen, aber auch zu gesellschaftlicher Ungerechtigkeit geführt. Es sei eine liberale Reform des Kapitalismus erforderlich, die die Aufhebung der Ungleichgewichte des Vorteils und der Ballung wirtschaftlicher Macht, die aus der Akkumulation von Geld und Besitz und der Konzentration des Eigentums an den Produktionsmitteln in wenigen Händen folgen, zum Ziel hat. So würden die Gesetzlichkeiten einer privaten Wirtschaft in Einklang mit den Zielen einer liberalen Gesellschaft gebracht. Es bestehe kein selbstverständlicher Einklang zwischen persönlichem Vorteil und allgemeinem Wohl. “Wo Ziele liberaler Gesellschaft durch den Selbstlauf der privaten Wirtschaft nicht erreicht werden können, wo somit von einem freien Spiel der Kräfte Ausfallserscheinungen oder gar Perversionstendenzen für die Ziele liberaler Gesellschaft drohen, bedarf es gezielter Gegenmaßnahmen des Staates mit den Mitteln des Rechts. Freiheit und Recht sind nach unseren geschichtlichen Erfahrungen bedroht durch die Tendenz zur Akkumulation von Besitz und Geld, die die Reichen immer reicher werden läßt, und die Tendenz zur Konzentration des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln in wenigen Händen. (…) Dem freien Selbstlauf überlassen müssen eben diese negativen Tendenzen, bei aller ungebrochenen Leistungsfähigkeit, dessen Menschlichkeit am Ende zerstören: durch permanente Überprivilegierung der Besitzenden gegenüber den Besitzlosen, der Reichen gegenüber den Armen, der Produzenten gegenüber den Konsumenten, des Faktors Kapital gegenüber dem Faktor Arbeit. Das aber ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit des auf einem privaten Wirtschaftssystem gegründeten liberalen Gesellschaftssystems. In einer Gesellschaft, in der Besitz und Geld der Schlüssel für fast alle Betätigung der Freiheit ist, ist die Frage des gerechten Anteils an der Ertragssteigerung der Wirtschaft und am Vermögenszuwachs der Gesellschaft nicht nur eine Gerechtigkeitsfrage: sie ist die Freiheitsfrage schlechthin. (…) Liberale Reform des Kapitalismus verlangt demnach ein geseIlschaftspolitisches Programm, das an den kritischen Punkten des kapitalistischen Systems mit gezielten Maßnahmen ansetzt, die geeignet sind, ebenso die Leistungsfähigkeit dieses Wirtschaftssystems zu erhalten und zu steigern, wie seine Menschlichkeit zu gewährleisten und sicherzustellen.”

Gedanken, liberale Gedanken notabene, die heute gewiß mit dem (ebenfalls liberalen) Verdikt: “Geistiger Sozialismus” versehen werden. Schade drum. Die FDP hat in der Tat viel verloren. An geistiger Offenheit und Breite. Stattdessen, wohin man auch sieht: ideologische Kleingeisterei. Sozialismusverdacht allerorten. Armselige Klientelpolitik. Jedenfalls kein großer gedanklicher Entwurf für eine moderne und liberale Gesellschaft. Keine geistig-politische Wende, von moralischer Wende ganz zu schweigen.