Monat: September 2023
“Mut zur Intoleranz“
Vor 75 Jahren, im September 1948, zum Auftakt der Grundgesetzberatungen, hielt er (Carlo Schmidt, W.H.) eine Rede, die man nachlesen muss, wenn es heute um Brandmauern gegen die Rechtsextremisten von der AfD geht. Im Parlamentarischen Rat zu Bonn, vor dem er die Rede hielt, saßen viele Widerstandskämpfer gegen Hitler, so viele wie in keinem späteren deutschen Parlament mehr. Sie wussten, was Carlo Schmid meinte, als er diese Forderung stellte: “Demokratie ist nur dort mehr als ein Produkt einer bloßen Zweckmäßigkeitsentscheidung, wo man den Mut hat, an sie als etwas für die Würde des Menschen Notwendiges zu glauben. Wenn man aber diesen Mut hat, dann muss man auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.”
Heribert Prantl, Mut zur Intoleranz, in Süddeutsche Zeitung vom zweiundzwanzigsten September Zweitausenddreiundzwanzig
Um diesen Mut geht es im Umgang mit der AfD. Aus dieser Mahnung wurde der Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes. “Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.” Man darf damit nicht warten, bis es zu spät ist.
Die Wiedergänger
Gegenüber des Hauptbahnhofs in Erfurt begrüßt dieser Schriftzug die Touristen: In jenem Gebäude befand sich 1973 – Mauer stand noch, das war die DDR – ein Hotel. Der bundesdeutsche Kanzler war dort zu Gast. Eine große Menge versammelte sich davor und rief, was nun in hellen Buchstaben auf dem Dach festgehalten ist. Es brauchte Mut, nach Brandt zu rufen. Ein historischer Moment der Hoffnung, des Fortschritts und ein Versprechen auf Freiheit und Einheit, die damals unerreichbar schienen. Heute scheint der demokratische Geist dieses Moments in Erfurt tausend Jahre her.
Am Donnerstag hoben die Abgeordneten von Union und FDP im Landtag in Erfurt die Hand, um gemeinsam mit der AfD der Landesregierung ein‘s auszuwischen. Es ging um nichts Wichtiges, eine Senkung der Grundsteuer und eine Entlastung reicher Menschen. Es war wie ein später Beleg für die uralte Mahnung meines Großvaters: Die Bourgeoisie verteidigt ihre Interessen notfalls mit den Faschisten, verrät dafür die Demokratie. Weit hergeholt?
Chef der AfD in Thüringen ist Björn Höcke, ein einschlägig vorbestrafter Mann. Ihn einen Faschisten zu nennen, stellte ein Gericht fest, ist keine Beleidigung. Intellektuell ist Höcke eng verbandelt mit dem Verleger Götz Kubitschek, der ihm seine Reden schreibt. In dessen Antaios-Verlagsprogramm findet sich „Revolte gegen den großen Austausch“ – Texte des französischen Hasspredigers Renaud Camus. Er erfand den berüchtigten Begriff „Grand Remplacement“. Darin deutet Camus (mit Albert in so gar keiner Hinsicht verwandt) die Gegenwart als Kampf zwischen Einheimischen weißen und christlichen Menschen und den remplacistes, einer globalen Elite, die diese einheimische Bevölkerung durch Menschen aus Afrika und Asien austauschen möchte.
Diese Weltanschauung liefert rechten Gewalttätern ihre moralische und argumentative Munition – ebenso tödlich wie Patronen. Einige rassistische Massenmörder, etwa Anders Breivik und der Attentäter von Christchurch haben diese Theorie als Legitimation für ihre Verbrechen heran gezogen. Camus und in Deutschland Götz Kubitschek liefern ihnen die Lizenz zum Töten, denn er suggeriert einen Zustand der zivilisatorischen Notwehr, in dem alle Mittel erlaubt sind.
(…)
Es geht den neuen parlamentarischen Partnern von FDP und CDU in Thüringen nicht um Politik, schon gar nicht um die Senkung der Grundsteuer, sondern um die Macht und die Ausübung von Gewalt. Höcke, Kubitschek und Renaud Camus sind eine unmittelbare Bedrohung für alle, die anders aussehen, anders sprechen und ihnen sonst wie nicht passen. Für Migranten, Minderheiten, Juden, rassifizierte Personen und alle, die nicht nach ihrer Pfeife tanzen. So ein rechter Parlamentserfolg macht das Leben für viele Menschen sehr viel gefährlicher.Weiter weg kann man sich vom Geist des Grundgesetzes nicht entfernen. CDU und FDP in Thüringen haben einen historischen Fehler begangen. Das Tor wird sich nicht mehr schließen lassen. Merz ist gescheitert. Union und Liberale werden sich genau wie in Frankreich über die Frage der Zusammenarbeit mit den Rechten spalten und zerstreiten, was denen noch mehr Macht verschaffen wird.
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Nils Minkmar, Die Widergänger, in: Newsletter Der siebte Tag
Es ist nicht zu viel verlangt, angesichts dessen, was war und was droht, jedes Mal, wenn von der AfD und Höcke die Rede ist, auch von Kubitschek, Camus, Breivik und Christchurch zu reden. Diese Männer sind gefährlich.
Henning May: Schmetterling
Ein Moment, ist alles was wir brauchen, etwas Zeit und etwas Licht, dann siehst du ihn kurz oben auf und dann plötzlich wieder nicht.
Die große Volte steht dir gut, und uns tut gut zu sehen, wie seine Flügel schlagen und über Blüten stehen.
Wir schauen ihm hinterher, er ist zart und frei, der Schmetterling fliegt weiter und vorbei, der Schmetterling fliegt weiter und vorbei.
Nach unserem letzten Lied, heute Abend, muss unser Team abbau‘n und laden, dann werde ich einen Kasten auf die Südtribüne tragen und dort warten, bis alle Feierabend haben, und dann stoßen wir darauf an, dass der Schmetterling so schön fliegen kann.
Ein Moment, ist alles, worum es geht, heute Abend, im Stadion auf der Bühne stehen, und mit meinen Flügeln schlagen.
Ich kann nicht fliegen, ich kann singen, flüstern, schreien, ich liebe alle Lieder, auch das letzte, weil ich weiß: Jeder Moment, jeder Moment hat seinen Preis, weil das Gefühl, das Gefühl nie lange bleibt.
Jeder Moment, jeder Moment hat seinen Preis, der Schmetterling fliegt weiter, weiter und vorbei.
Der Schmetterling, fliegt weiter, weiter und vorbei. Der Schmetterling fliegt weiter und vorbei, der Schmetterling fliegt weiter und vorbei.
Bitterböser Friederich
Alte Heimat
Das Wort »alte Heimat« ist voll melan-cholischer, das Wort »neue Heimat‹ voll optimistischer Wehmut. Das Wort Völkerwanderung klingt mißverständlich, zweideutig, weil Wanderung und Wandern so friedliche Wörter sind. In Wahrheit war Völkerwanderung immer Völkerverdrängung; nie ging das ohne Gewalt, da wurde verschleppt, mitgeschleppt, zurückgelassen; mancher, der im Sinne des politischen terminus technicus »heimatvertrieben« ist, hat sich hier besser zurechtgefunden als mancher, der seine Heimat im Sinne dieses terminus technicus nie verlor. Das zerstörte Köln war nicht die alte, es war eine zweite Heimat, die schon wieder verloren ist.
Vorwort von Heinrich Böll in: Zeit der Ruinen. Köln am Ende der Diktatur, Herausgegeben im Auftrage der Stadt Köln von Hans Schmitt-Rost, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, Köln (2. Auflage) 1965
Walk off the Earth: Crazy
Das liberale Gewissen der Nation
Rumgeopfere
Das „Rumgeopfere“ ist ein Trick aus den rechten Kulturkämpfen seit mehr als 40 Jahren, den in Deutschland auch die AfD benutzt und in den USA Donald Trump. (…) Leute, die eigentlich als tatkräftig, geerdet und durchsetzungsfähig rüberkommen wollen, wie Aiwanger, Höcke oder Trump, jammern die ganze Zeit rum, wie böse angeblich alle anderen zu ihnen sind. Im Fußballstadion zieht solch ein Verhalten nur Verachtung nach sich: Ein Spieler, der nur so tut, als sei er gefoult worden und sich übertrieben am Boden wälzt, kann davon ausgehen, fortan als Schauspieler ausgepfiffen zu werden. (…)
Politik lebt von der medialen Vermittlung, und damit von Bildern und Reden. Wie groß die rhetorische Kraft dieser Bilder ist, kann man beispielhaft an Aiwangers Antworten auf die 25 Fragen von Bayerns Ministerpräsident Söder sehen. Da wird in einer Vorbemerkung Entsetzen geäußert darüber, dass aus dem „geschützten Raum Schule“ Informationen weitergegeben würden.
Der „geschützte Raum Schule“ ist ein starkes Bild. Aiwanger macht sich damit aus zwei Gründen zum Opfer. Zum einen verwendet er einen Begriff, der in der medialen Debatte seit ein paar Jahren eingeführt ist durch vulnerable Gruppen, also Menschen, die tatsächlich Opfer sind, von Diskriminierung betroffen. Der „geschützte Raum“, englisch „safe space“, ist der Ort, an dem etwa trans Personen, People of Color oder andere Minderheiten unter sich sein können, das heißt: sicher vor kleineren oder größeren Angriffen aus der weißen Mehrheitsgesellschaft.
Schon das ist infam – Aiwanger klaut sich einen Begriff und damit den Opferstatus von Leuten, gegen die er als Stimme der vermeintlich normalen Bevölkerung sonst seine Bierzeltreden entwirft. (…)
Zum anderen bewirkt das Bild vom „geschützten Raum Schule“, der durch Weitergabe von Informationen verletzt worden sei, eine Täter-Opfer-Umkehr, die man erst auf den zweiten Blick erkennt. Denn die Affäre dreht sich ja nicht um die Info, in welcher Erdkunde-Klassenarbeit Aiwanger eine Vier geschrieben hat. Sondern um ein Flugblatt – also ein Medium, das selbst Öffentlichkeit sucht. Andere Menschen, möglichst viele, sollten den Text lesen und davon im besten Fall beeinflusst werden in ihrer Wahrnehmung des Geschichtswettbewerbs, über den das Flugblatt auf eine ekelhafte Weise Häme ausschüttet. Mit anderen Worten: Das kann man, innerhalb der Schulöffentlichkeit, eine Medienkampagne nennen.
Die Kampagne stand also eher am Anfang als am Ende dieser Affäre, in der Hubert Aiwanger eines niemals gewesen ist: Ein Opfer.
Matthias Dell, Täter-Opfer-Umkehr. Aiwanger macht den Trump, Kolumne im Deutschlandfunk