Nun ist es aber so, dass zum Liberalismus neben der Freiheit auch die Verantwortung gehört. Zudem wird die Freiheit des Individuums begrenzt durch die Freiheit all der anderen Individuen. In einer Pandemie, in der die Ansteckung nur einen Hustenanfall des Sitznachbarn im Bus entfernt ist, sind diese anderen nun einmal verdammt nah an jeden Einzelnen herangerückt. Der Radius, innerhalb dessen man tun und lassen kann, was man will, ist enger geworden. Das sollte auch die FDP anerkennen. (…) Freiheit ohne Verantwortung ist nichts weiter als das Recht des Stärkeren. Besonders gravierende Folgen hat ein derart einfältiger Freiheitsbegriff, wenn die individuelle Entscheidungsfreiheit auch dann noch hochgehalten wird, wenn ebendiese Freiheit das Leben anderer gefährdet. (…) Die Pandemie ist eine Zumutung, die verlängert wird durch jene, die entweder als Trittbrettfahrer auf die Impfbereitschaft der anderen setzen oder Corona irrigerweise für eine Lüge halten. Die Kosten dieses individuellen Verhaltens aber werden kollektiviert; die Gesellschaft muss sie tragen, auch in Form von Freiheitseinschränkungen für alle. Damit allerdings dürfte gerade die FDP am wenigsten einverstanden sein.
Henrike Roßbach, Das kann die FDP nicht ernsthaft wollen, in: Süddeutsche Zeitung
Tag: 17. November 2021
Drei
Dreimal ist Bremer Recht, so ein regionales, norddeutsch-bremisches Wort. Hierzulande bekannter ist: Aller guten Dinge sind drei. Drei, das weist seit heute auch meine Corona-Warn-App aus. Ich bin drei mal geimpft, also: zweimal geimpft und einmal sogar geboostert. Mehr kann ich einstweilen nicht unternehmen, um mich und andere vor Corona zu schützen. Ich halte, so weit es geht, die erforderlichen Abstände zu anderen Menschen ein, ich meide größere Ansammlungen und Treffen und beachte die Hygieneregeln. Und: Genau das erwarte ich auch von meinen Mitmenschen. Impfen lassen, Abstand halten, Hygieneregeln einhalten. Nur so können wir gemeinsam Corona eindämmen. Nach und nach. Ohne das Impfen geht gar nichts. Ungeimpft bleiben wir Opfer des Virus und Mittäter. Ungeimpft sind wir mitverantwortlich für mangelnden Schutz für vulnerable, also verletzliche Menschengruppen, Alte, Kranke, Kinder, Behinderte. Freiwillig ungeimpft ist nicht sozial, sondern egomanisch. Also, meine Bitte: Laßt Euch alle impfen, bitte. Sorgen wir gemeinsam dafür, daß Corona seinen Schrecken verliert.
Der abgemagerte Schatten von Selbstverwirklichung
Ohne öffentliche Ordnung in Recht und Staat wäre kein Individuum mehr als ein paar Tage überlebensfähig. Wenn Chaos auf den Straßen herrscht, müssen sich die Einzelnen in den Schutz Stärkerer, in der Regel von Clans und Familienverbänden, flüchten. Nur in befriedeten, gewaltarmen, täglich kleinteilig kooperierenden Gesellschaften kann Individualismus zu einer Massenerscheinung werden. Die wichtigste jüngere Voraussetzung schließlich sind die kollektiven Sicherungssysteme, also der Sozialstaat. Ohne Kranken- und Rentenkassen, ohne Arbeitslosengeld wären die Einzelnen ihren Familien so gnadenlos ausgeliefert wie im neunzehnten Jahrhundert noch jene unverheirateten Frauen und “alten Jungfern”, die als “Tanten” am Rande alter Weihnachts- und Hochzeitsfotografien figurieren. Auch sie konnten sich erst durch Berufsfreiheit und Sozialstaat befreien.
Warum an diese Trivialitäten erinnern? Weil die Pandemie unbarmherzig das geistige Debakel des gegenwärtigen Liberalismus offenlegt: “Freiheit” ist hier auf die Schrumpfform des “Ich will” oder “Ich will nicht” reduziert, es ist der abgemagerte Schatten von “Selbstverwirklichung”. Vor ein paar Tagen twitterte ein junger Liberaler, er habe eigentlich vorgehabt, sich ein drittes Mal impfen zu lassen, doch seit so viel Druck aufgebaut werde, müsse er sich das noch einmal überlegen.
Kindischer Trotz als “Freiheit” – so tief sind Teile selbst des politischen Liberalismus in Deutschland gesunken. In Ostdeutschland wird solcher Trotz von den absichtsvoll verlängerten Erfahrungen mit einer vom autoritären Kollektiv auferlegten Solidarität in der DDR befeuert. Es ist ein Freiheitsbegriff, der nur in Abwehr besteht und nichts Positives mehr will. Der Ausgleich zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, der in Kooperation besteht, ist ihm fremd.
Der Weg der Pandemiebekämpfung muss zwischen dem falschen Einmütigkeitsversprechen, das gesellschaftliche Konflikte verleugnet, und einem ebenso falschen Radikalindividualismus gefunden werden. Das ist die anspruchsvolle Aufgabe des politischen Liberalismus.
Es ist vor allem Aufgabe und Funktion der FDP, diesen Weg zu finden. Sonst kann die Pandemie mit steigenden Sterbeziffern zu ihrem Endspiel werden.
Gustav Seibt, Pandemie und Politikversagen. Das Endspiel des Liberalismus, in: Süddeutsche Zeitung