Kategorie: Literatur

Geht unter die Menschen und sagt, es ist Zeit.

„Es ist nichts verborgen, was nicht sichtbar werden wird. Wenn ihr nur die liebt, die Euch lieben, was tut Ihr da Besonderes? Nein, tut Gutes allen. Gebt, ohne etwas zurückzuhoffen.“ Wenn Rolle und Mime zusammenfallen und das Publikum aus der Rolle fällt, wenn der Mime ausfallend wird und das Publikum nicht hören und sehen will, sondern reden und stören und eine, seine Rolle spielen, dann ist die Zeitmaschine im Jahre Neunzehnhunderteinundsiebzig gelandet am zwanzigsten November in München. Bei Klaus Kinski. Bei Jesus Christus Erlöser. Gesucht wird Jesus Christus. Wenn Kinski zu Jesus wird, werden will, aber pöbelt, grob und hilflos, und das Publikum die Pharisäer gibt und ebenfalls pöbelt, in revolutionärer Vermummung, bleibt Kinskis Bitte. Oder doch Jesus’ Flehen? „Mein Gott, verlaß mich nicht.“ Eifer und Langmut und Geduld werden belohnt. Wenn man bis zum Ende durchhält. Klaus Kinski und sein Jesus, das ist mehr als nur eine Zeitreise. Sie sind auch eine Offenbarung.

https://youtu.be/_CzQi40MKbc

Seid was ihr wollt

Wortgewalt, mittelalterliche, trifft Stimmkraft, neuzeitliche. Francois Villon, Dichter, Gauner, Student, gelesen von Klaus Kinski, Mime und Irrsinniger. Seid was ihr wollt …

Seid was ihr wollt: Soldaten, Schuster, Opernsänger,
Produktenhändler oder auch nur Hundefänger,
ob ihr verlaust seid oder an der Börse spekuliert
mit Haifischflossen, Affenschitt und Kaffeebohnen,
ob sich die graden oder mehr die krummen Wege lohnen;
nur wo ihr euer Geld verliert,
bei Weibern, Wein und Kartenspiel,
da wiegt ihr allesamt nicht viel.

Stopft euch den Bauch mit Kaviar und Pfauenzungen
und qualmt solange, bis aus den zerfressnen Lungen
die Schwindsucht grinsend in die Landschaft stiert,
seid Meister auf der Kegelbahn, sammelt Autographen,
wählt Reichstag und euch selber zu den Oberschafen;
nur wo ihr euer Geld verliert,
bei Weibern, Wein und Kartenspiel,
da wiegt ihr allesamt nicht viel.

Von solchem Übel kann euch nur der Dalles retten,
denn wer nichts hat, sein Haupt darauf zu betten,
kein Haus und auch kein Kleid, wenns ihn im Winter friert;
der fühlt, wie schwer die armen Knochen wiegen,
wenn sie verfault bei Aas und Maden liegen,
und denkt: wer jetzt die Lust verliert,
der wog bei Weibern, Wein und Kartenspiel
nicht einen Pappenstiel.

Nicht müde werden

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.

Hilde Domin, geborene Löwenstein, Schriftstellerin, geboren Neunzehnhundertneun in Köln, gestorben Zweitausendundsechs in Heidelberg, floh vor dem Faschismus in die Dominikanische Republik und führte fortan an Namen Domin in Würdigung der Insel, die Ihr Zuflucht bot vor Verfolgung und Unterdrückung.

Wenn du geboren bist am Kiessaum der See

Wenn du geboren bist am Kiessaum der See,
stehst du auf steinigem Grund,
wo immer du gehst,
das Gras bahnt sich seinen Weg
zwischen den Steinen.

Geh du ans Ende der Welt,
Ruhm zu erlangen,
kehr heim
und spiel mit einer zerschellten Muschel.

Geh, Alter,
den Weg der Welt in Gänze,
und am Strand der Ewigkeit
findest du einen vergilbten Halm
hinter einem Stein aus Basalt, geschliffen vom Meer.

 

Jón úr Vör, Wenn du geboren bist am Kiessaum der See, aus dem Zyklus: Þorpið / Das Dorf, Queich-Verlag, zitiert nach dem literarischen Blog: Wortspiele von Wolfgang Schiffer

Verwüstung

Die Verwüstung der deutschen Sprache grassiert nicht nur im Alltag, sondern auch in jeder Zeitung, in der „Zeit“, der „Süddeutschen“, leider auch in Ihrer. Dass man nicht mehr „selbst“ und „selber“ auseinanderhalten kann oder dass „sicher“ geschrieben wird, wo „sicherlich“ gemeint ist, oder „scheinbar“ statt „anscheinend“. Oder es heißt: „Die syrischen Flüchtlinge flüchten nicht umsonst.“ Ja, umsonst ganz bestimmt nicht, denn sie müssen mindestens das Benzin für ihre klapprigen Autos bezahlen. Oder: „Augstein hat umsonst Reitunterricht genommen.“ Nein, so geizig war er nicht, er hat seinen Reitlehrer bestimmt bezahlt. Er hat aber vergebens Unterricht genommen, weil er es nicht gelernt hat. Wenn es aber schnurzpiepe ist, wie man sich ausdrückt, dann hebt das auch das Denken auf, dann stimmen zum Teil auch die Fakten nicht mehr, dann sind die nämlich auch wurst.

Fritz J. Raddatz, Kritiker und Feuilletonist, gestorben durch begleiteten Suizid im Februar Zweitausendundfünfzehn, in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Jahre Zweitausendundzwölf über Kunst als Dekor, die Verwüstung der Sprache und Stil als Korsett für Unsichere.

Emojis

Emojis (…) sind die Barbies des Schriftverkehrs: zu grell, zu aufgesetzt, zu Plastik. Hat man die 30 überschritten, gilt es, Emojis sparsam oder nur im Notfall zu verwenden. Notfall, das heißt: Wenn man zu betrunken zum Tippen ist, seine Kontaktlinsen verloren hat oder durch einen absurden Zufall an die Handynummer von Justin Bieber gekommen ist. Wer durchs Netz smiled, setzt sich schnell dem Verdacht aus, ein Sticker-Album zu besitzen oder die Haarspange farblich auf die Ballerinas abzustimmen. Zugegeben: Es ist nicht leicht, die Fratzen der Emotion nicht zu verwenden – auf neuen Smartphones frohlocken neben der üblichen Palette der übersteigerten Stimmung auch animierte Requisiten eines potenziell weltumspannenden Theaterstücks: Wassermelonen, Stöckelschuhe, Commedia dell’arte-Masken, Pillen, Geodreiecke.

Friederike Zoe Grasshoff, Wann Über-30-Jährige noch Emojis benutzen dürfen, in der Süddeutschen Zeitung vom fünfundzwanzigsten Oktober Zweitausendfünfzehn