Vor nicht ganz einem Jahr haben wir hier schon den Text und eine Coverversion von A Hard Rain’s Gonna Fall von Bob Dylan veröffentlicht. Und nun hat Patti Smith das Lied auf der Zeremonie zur Literaturnobelpreisverleihung gesungen.
Kategorie: Literatur
Von Apotheken und Buchhändlern
Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese sich zunehmend verrohende Welt
Carolin Emcke hat heute in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. In ihrer Dankesrede spricht sie auch über ihre Homosexualität, über Fanatismus, über Freiheit.
Von Carolin Emcke
I.
Wow. So sieht es also aus dieser Perspektive aus… All die ersten Jahre, seit der Auszeichnung an George F. Kennan 1982, schaute ich die Verleihung des Friedenspreises von unten nach oben: Meine Eltern hatten eigenwilligerweise nur zwei Fernseh-Sessel, Kinder mussten sich unterhalb arrangieren und so lag ich auf dem Teppich und hörte gebannt die Reden der Preisträger. Ich sage “Preisträger”, denn die ersten dreizehn Jahre, die ich von unten nach oben blickte, waren es ausschließlich Männer. Auch als ich längst eine eigene Wohnung hatte, behielt ich dieses Ritual bei: Ich betrachtete den Friedenspreis vom Fußboden aus. Irgendwie schien das auch angemessen zu sein. Seit der Preisverleihung an David Grossman saß ich dort, wo Sie jetzt sitzen.
Letztes Jahr noch bin ich mit einem Freund am Vorabend der Verleihung nachts in den Festsaal im Frankfurter Hof geschlichen, um die Tischordnung für das Festessen zu manipulieren (wobei wir peinlicherweise erwischt wurden) und jetzt das hier…
Weil geredet werden kann
Carolin Emcke, Publizistin und Autorin der Süddeutschen Zeitung, erhält den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Von Jens Bisky mehr …
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Meine Damen und Herren, ich bedanke mich beim Stiftungsrat des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels für diese Auszeichnung. Sie erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit und einem glücklichen Staunen.
Niemand wächst allein. Einige, die hier an dieser Stelle vor mir standen, waren für mein Denken existentiell. Die Werke vieler Friedenspreisträger*innen, aber auch die Begegnung mit manchen haben mich zu der gemacht, als die ich heute schreibe: Martin Buber und Nelly Sachs, David Grossman und Jorge Semprun, und in besonderer Weise Jürgen Habermas und Susan Sontag. Nach ihnen in einer Reihe zu stehen, lässt mich diesen Preis weniger als Auszeichnung denn als Aufgabe begreifen.Niemand schreibt allein. Zwei Menschen waren für mein Schreiben unverzichtbar und ihnen möchte ich ausdrücklich danken: der Photograph und Freund Sebastian Bolesch, der mich über 14 Jahre auf allen Reisen ins Ausland begleitet hat und ohne den kein Text so entstanden wäre. Und mein Verleger und Lektor Peter Sillem vom S. Fischer Verlag, der mich seit dem ersten Manuskript über alle Zweifel hinwegträgt und ohne den kein Buch so erschienen wäre. Vielen Dank.
II.
Nicht alle, aber viele, die vor mir hier standen, haben nicht allein als Individuen, sondern sie haben auch als Angehörige gesprochen. Sie haben sich selbst verortet in einem Glauben oder einer Erfahrung, in der Geschichte eines Landes oder einer Lebensform – und darauf reflektiert, was das heißt, als chinesischer Dissident, als nigerianischer Autor, als Muslim, als Jüdin hier in der Paulskirche zu sprechen, in diesem Land, mit dieser Geschichte.
Für diejenigen, die hier oben, mit dieser Perspektive sprechen durften, bedeutete es oft auch, aus und von einer besonderen Perspektive zu erzählen. Sie waren eingeladen und sie wurden ausgezeichnet, weil sie sich für ein universales Wir einsetzten – und doch haben sie oft auch als Angehörige einer bedrängten Gruppe, eines marginalisierten Glaubens, einer versehrten Gegend gesprochen. Das ist durchaus bemerkenswert, denn es ist keineswegs gewiss, was das heißt: angehörig oder zugehörig zu sein.
Das moderne hebräische Wort für “angehören”, “shayach”, stammt ursprünglich aus dem Aramäischen – ist gleichsam zugewandert, aus einer Sprache in eine andere, um dann ironischerweise die Bezeichnung für “Angehörigkeit” zu bilden. Das Wort shayach verweist auf nichts anderes. Anders als die meisten anderen Begriffe im Hebräischen birgt es in sich keine Anteile eines anderen. Es gehört gleichsam sich selbst. Etwas als shayach zu bezeichnen, bedeutet: es ist relevant, angemessen, wichtig. Das wäre eine schöne Spur: sich zugehörig zu zählen zu einem Glauben oder einer Gemeinschaft, hieße: ich bin für diese Gemeinschaft relevant, in ihr zähle ich als wichtiges Element.
Aber Angehörigkeit lässt sich auch in die andere Richtung denken: nicht nur ich bin für diese Gemeinschaft wichtig, sondern auch der Glaube für mich. Jüdisch zu sein oder katholisch oder muslimisch, das macht etwas aus. Es strukturiert mein Denken, meine Gewohnheiten, meinen Tag. Almosen zu geben, das gehört zu den einen, wie das Beten bei Tisch oder das Anzünden der Kerzen zu den anderen.
Im Deutschen kennt der Begriff “gehören” mehrere Verwendungen: i) jemandes Besitz zu sein, aber auch ii) Teil eines Ganzen zu sein, zu etwas zu zählen, sowie iii) “gehören” als an einer bestimmten Stelle passend zu sein und für etwas erforderlich zu sein. Bin ich, wenn ich fromm bin, im Besitz des Glaubens? Ist Religiosität etwas, das mir gehört? Oder ist Glaube etwas, das sich im und durch das Hadern bestätigt? Was heißt also an-gehören in Bezug auf den Glauben? Gehört mir mein Glaube oder gehöre ich dem, an den ich glaube?
Damit ist noch nicht einmal berührt, ob diese Angehörigkeit etwas ist, zu dem es sich bewusst entscheiden lässt. Ab wann jemand zu einer Kirche oder Gemeinschaft gehört, das lässt sich festmachen an den jeweiligen Riten der Aufnahme. Aber ab wann der Glaube zu einer Person gehört, das ist weniger eindeutig. Hatten mich die Passionen und Kantaten von Bach nicht schon durchdrungen und von innen heraus geformt, bevor ich von einem Glaubensbekenntnis auch nur wusste? Gehörte das nicht zu mir, und das heißt: bildete das nicht schon eine Voraussetzung für die, die ich werden sollte, bevor ich mich überhaupt zu einer Gemeinschaft hätte zugehörig erklären können?
Nun kennt das Wort “Angehörigkeit” keine Schattierungen. Es suggeriert eine einheitliche Empfindung. Als ob es uns immer gleich relevant sei, jüdisch oder protestantisch oder muslimisch zu sein, . Als ob es sich an jedem Ort gleich anfühlte, kurdisch zu sein oder polnisch oder palästinensisch. Als ob es nicht in unterschiedlichen Situationen ganz unterschiedlich prägnant sein könnte. Mein Freund, der Regisseur Nurkan Erpulat, hat einmal auf die Frage, was es für ihn bedeute, muslimisch zu sein, geantwortet: “Das kommt auf den Kontext an.” Manchmal ist die argentinische Herkunft besonders deutlich im glücklichen Blick auf die leuchtend lilafarbenen Blüten der Jacaranda. Aber manchmal ist sie besonders deutlich fern von dort, in Berlin, wenn ein Hubschrauber über der Stadt nicht von einem Militär-Putsch kündet, sondern nur von einem Stau – und die eingeübte Angst eine Weile braucht, bis sie sich verzieht.
Für manche wird das eigene Judentum besonders spürbar, wenn sie die Süße von Äpfeln mit Honig an Rosh ha’shana schmecken. Für andere dagegen, wenn sie in der Paulskirche sitzen und einer Rede zuhören müssen, in der das furchtbare Leid der eigenen Angehörigen von einem Menschheitsverbrechen, an das bis heute zu erinnern ist, zu einer bloßen “Moralkeule” verstümmelt wird. Ist Zugehörigkeit also etwas, das aufscheint im Zusammensein mit anderen oder etwas, das aufscheint, wenn man als einziger aus einer Gemeinschaft herausfällt? Weil die jüdische Perspektive als eine, die zu dieser Gesellschaft gehört, einfach ausgeblendet wird. Ist Zugehörigkeit also mit Glück oder mit Trauer verbunden? Ist zugehörig, wer als zugehörig erkannt wird und ist anders zugehörig, wem diese Anerkennung verweigert wird?
Wem gehört also dieses An-gehören – einem selbst oder den anderen? Gibt es das nur in einer Form oder in verschiedenen? Und vor allem: wie viele Kontexte und Verbindungen können für mich in diesem Sinne relevant und wichtig sein? Wie viele Schnittmengen gibt es von Kreisen, in denen ich passend bin und aus denen ich mich als Individuum zusammensetze? Ich bin homosexuell und wenn ich hier heute spreche, dann kann ich das nur, indem ich auch aus der Perspektive jener Erfahrung heraus spreche: also nicht nur, aber eben auch als jemand, für die es relevant ist, schwul, lesbisch, bisexuell, inter*, trans* oder queer zu sein. Das ist nichts, das man sich aussucht, aber es ist, hätte ich die Wahl, das, was ich mir wieder aussuchte zu sein. Nicht, weil es besser wäre, sondern schlicht, weil es mich glücklich gemacht hat. Als ich mich das erste Mal in eine Frau verliebte, ahnte ich – ehrlich gesagt – nicht, dass damit eine Zugehörigkeit verbunden wäre. Ich glaubte noch, wie und wen ich liebe, sei eine individuelle Frage, eine, die vor allem mein Leben auszeichnete und für andere, Fremde oder gar den Staat, nicht von Belang.
Jemanden zu lieben und zu begehren, das schien mir vornehmlich eine Handlung oder Praxis zu sein, keine Identität. Es ist eine ausgesprochen merkwürdige Erfahrung, dass etwas so Persönliches für andere so wichtig sein soll, dass sie für sich beanspruchen, in unsere Leben einzugreifen und uns Rechte oder Würde absprechen wollen. Als sei die Art, wie wir lieben, für andere bedeutungsvoller als für uns selbst, als gehörten unsere Liebe und unsere Körper nicht uns, sondern denen, die sie ablehnen oder pathologisieren. Das birgt eine gewisse Ironie: Als definierte unsere Sexualität weniger unsere Zugehörigkeit als ihre.
Manchmal scheint mir das bei der Beschäftigung der Islamfeinde mit dem Kopftuch ganz ähnlich. Als bedeutete ihnen das Kopftuch mehr als denen, die es tatsächlich selbstbestimmt und selbstverständlich tragen. So wird ein Kreis geformt, in den werden wir eingeschlossen, wir, die wir etwas anders lieben oder etwas anders aussehen, dem gehören wir an, ganz gleich, in oder zwischen welchen Kreisen wir uns sonst bewegen, ganz gleich, was uns sonst noch auszeichnet oder unterscheidet, ganz gleich, welche Fähigkeiten oder Unfähigkeiten, welche Bedürfnisse oder Eigenschaften uns vielleicht viel mehr bedeuten. So verbindet sich etwas, das uns glücklich macht, etwas, das uns schön oder auch angemessen erscheint, mit etwas, das uns verletzt und wund zurücklässt. Weil wir immer noch, jeden Tag, Gründe liefern sollen dafür, dass wir nicht nur halb, sondern ganz dazugehören. Als gäbe es eine Obergrenze für Menschlichkeit.
Es ist eine merkwürdige Erfahrung: Wir dürfen Bücher schreiben, die in Schulen unterrichtet werden, aber unsere Liebe soll nach der Vorstellung mancher Eltern in Schulbüchern maximal “geduldet” und auf gar keinen Fall “respektiert” werden? Wir dürfen Reden halten in der Paulskirche, aber heiraten oder Kinder adoptieren dürfen wir nicht? Manchmal frage ich mich, wessen Würde da beschädigt wird: unsere, die wir als nicht zugehörig erklärt werden, oder die Würde jener, die uns die Rechte, die zu uns gehören, absprechen wollen? Menschenrechte sind kein Nullsummenspiel. Niemand verliert seine Rechte, wenn sie allen zugesichert werden.
Menschenrechte sind voraussetzungslos. Sie können und müssen nicht verdient werden. Es gibt keine Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit jemand als Mensch anerkannt und geschützt wird. Zuneigung oder Abneigung, Zustimmung oder Abscheu zu individuellen Lebensentwürfen, sozialen Praktiken oder religiösen Überzeugungen dürfen keine Rolle spielen. Das ist der Kern einer liberalen, offenen, säkularen Gesellschaft.
Verschiedenheit ist kein Grund für Ausgrenzung. Ähnlichkeit keine Voraussetzung für Grundrechte. Das ist großartig, denn es bedeutet, dass wir uns nicht mögen müssen. Wir müssen einander nicht einmal verstehen in unseren Vorstellungen vom guten Leben. Wir können einander merkwürdig, sonderbar, altmodisch, neumodisch, spießig oder schrill finden. Um es für Paulskirchen-Verhältnisse mal etwas salopp zu formulieren: ich bin Borussia Dortmund-Fan. Ich habe, nun ja, etwas weniger Verständnis dafür, wie man Schalke Fan sein kann. Und doch käme ich nie auf die Idee, Schalke-Fans das Recht auf Versammlungsfreiheit zu nehmen.
“Die Verschiedenheit verkommt zur Ungleichheit”, hat Tzvetan Todorow einmal geschrieben, “die Gleichheit zur Identität.” Das ist die soziale Pathologie unserer Zeit: dass sie uns einteilt und aufteilt, in Identität und Differenz sortiert, nach Begriffen und Hautfarben, nach Herkunft und Glauben, nach Sexualität und Körperlichkeiten spaltet, um damit Ausgrenzung und Gewalt zu rechtfertigen. Deswegen haben diejenigen, die vor mir hier standen und wie ich von einer besonderen Perspektive gesprochen haben, doch beides betont: die individuelle Vielfalt und die normative Gleichheit. Die Freiheit, etwas anders zu glauben, etwas anders auszusehen, etwas anders zu lieben, die Trauer, aus einer bedrohten oder versehrten Gegend oder Gemeinschaft zu stammen, den Schmerz der bitteren Gewalterfahrung eines bestimmten Wirs – und die Sehnsucht, schreibend eben all diese Zugehörigkeiten zu überschreiten, die Codes und Kreise in Frage zu stellen und zu öffnen, die Perspektiven zu vervielfältigen und immer wieder ein universales Wir zu verteidigen.
III.
Zurzeit grassiert ein Klima des Fanatismus und der Gewalt in Europa. Pseudo-religiöse und nationalistische Dogmatiker propagieren die Lehre vom “homogenen Volk”, von einer “wahren” Religion, einer “ursprünglichen” Tradition, einer “natürlichen” Familie und einer “authentischen” Nation. Sie ziehen Codes und Begriffe ein, mit denen die einen aus- und die anderen eingeschlossen werden sollen. Sie teilen willkürlich auf und ein, wer dazugehören darf und wer nicht.
Alles Dynamische, alles Vieldeutige an den eigenen kulturellen Bezügen und Kontexten wird negiert. Alles individuell Einzigartige, alles, was uns als Menschen, aber auch als Angehörige ausmacht: unser Hadern, unsere Verletzbarkeiten, aber auch unsere Fantasien vom Glück, wird geleugnet. Wir werden sortiert nach Identität und Differenz, werden in Kollektive verpackt, alle lebendigen, zarten, widersprüchlichen Zugehörigkeiten verschlichtet und verdumpft.
Sie stehen vielleicht nicht selbst auf der Straße und verbreiten Angst und Schrecken, die Populisten und Fanatiker der Reinheit, sie werfen nicht unbedingt selbst Brandsätze in Unterkünfte von Geflüchteten, reißen nicht selbst muslimischen Frauen den hijab oder jüdischen Männern die Kippa vom Kopf, sie jagen vielleicht nicht selbst polnische oder rumänische Europäerinnen, greifen vielleicht nicht selbst schwarze Deutsche an – sie hassen und verletzen nicht unbedingt selbst. Sie lassen hassen. Sie beliefern den Diskurs mit Mustern aus Ressentiments und Vorurteilen, sie fertigen die rassistischen Product-Placements, all die kleinen, gemeinen Begriffe und Bilder, mit denen stigmatisiert und entwertet wird, all die Raster der Wahrnehmung, mithilfe derer Menschen gedemütigt und angegriffen werden.
Dieser ausgrenzende Fanatismus beschädigt nicht nur diejenigen, die er sich zum Opfern sucht, sondern alle, die in einer offenen, demokratischen Gesellschaft leben wollen. Das Dogma des Homogenen, Reinen, Völkischen verengt die Welt. Es schmälert den Raum, in dem wir einander denken und sehen können. Es macht manche sichtbar und andere unsichtbar. Es versieht die einen mit wertvollen Etiketten und Assoziationen und die anderen mit abwertenden. Es begrenzt die Fantasie, in der wir einander Möglichkeiten und Chancen zuschreiben. Mangelnde Vorstellungskraft und Empathie aber sind mächtige Widersacher von Freiheit und Gerechtigkeit. Das ist eben das, was die Fanatiker und Populisten der Reinheit wollen: sie wollen uns die analytische Offenheit und Einfühlung in die Vielfalt nehmen. Sie wollen all die Gleichzeitigkeiten von Bezügen, die uns gehören und in die wir gehören, dieses Miteinander und Durcheinander aus Religionen, Herkünften, Praktiken und Gewohnheiten, Körperlichkeiten und Sexualitäten vereinheitlichen
Sie wollen uns weismachen, dass es das nicht gäbe, demokratischen Humanismus. Sie wollen Pässe als Ausweise der inneren Verfasstheit missdeuten, nur um uns gegeneinander auszuspielen. Das hat auch etwas Groteskes: Jahrzehntelang hat diese Gesellschaft geleugnet, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein, jahrzehntelang wurden Migrantinnen und Migranten als “Fremde” angesehen, nicht als Bürgerinnen und Bürger, jahrzehntelang wurden sie behandelt als gehörten sie nicht dazu, als dürften sie nichts anderes sein als Türken – und jetzt wirft man ihnen vor, sie wären nicht deutsch genug und besäßen noch einen zweiten Pass?
Die Familie meiner Mutter ist vor dem Krieg ausgewandert nach Argentinien. Alle in ihrer Familie besaßen zu verschiedenen Zeitpunkten verschiedene Pässe, mal einen argentinischen, mal einen deutschen, manchmal beide. Ich habe sie zuhause bei mir aufgehoben: den Pass meines Großvaters, den mir mein Onkel geschenkt hat, und den meiner Mutter. Meine Nichte Emilia, die heute hier ist und die wie alle ihre Geschwister in den USA geboren ist, hat auch einen amerikanischen Pass. Mehrsprachig waren und sind alle.
Aber glauben die Neonationalisten wirklich, irgendjemand in meiner Familie wäre weniger demokratisch gewesen, hätte deswegen weniger Respekt vor der Freiheit jedes Einzelnen und dem Schutz menschlicher Würde? Glauben die wirklich, der Pass sage etwas aus über die eigene Abneigung gegen Verrohung und die Bereitschaft, sich demokratisch für eine offene Gesellschaft zu engagieren – und zwar, egal wo?
Ich vermute eher, alle, die einmal vertrieben wurden, die Flucht oder auch nur Migration kennen, alle, die sich an verschiedenen Orten in der Welt zu Hause fühlen, alle, die mit Heimweh oder Fernweh geplagt sind, alle, die die verschiedenen Klangfarben der Ironie und des Humors lieben, die sich abwechseln und vermischen, wenn man die Sprache wechselt, alle, die Kinderlieder erinnern, die die nächste Generation nicht mehr kennt, alle, die die Brüche der Gewalt und des Kriegs miterlebt haben, alle, denen die Furcht vor Terror und Repression unter die Haut gezogen ist, wissen doch um den Wert stabiler rechtsstaatlicher Institutionen und einer offenen Demokratie. Vielleicht sogar etwas mehr als diejenigen, die noch nie darum bangen mussten, sie zu verlieren.
Sie wollen uns einschüchtern, die Fanatiker, mit ihrem Hass und ihrer Gewalt, damit wir unsere Orientierung verlieren und unsere Sprache. Damit wir voller Verstörung ihre Begriffe übernehmen, ihre falschen Gegensätze, ihre konstruierten Anderen – oder auch nur ihr Niveau. Sie beschädigen den öffentlichen Diskurs mit ihrem Aberglauben, ihren Verschwörungstheorien und dieser eigentümlichen Kombination aus Selbstmitleid und Brutalität. Sie verbreiten Angst und Schrecken und reduzieren den sozialen Raum, in dem wir uns begegnen und artikulieren können.
Sie wollen, dass nur noch Jüdinnen und Juden sich gegen Antisemitismus wehren, dass nur noch Schwule gegen Diskriminierung protestieren, sie wollen, dass nur noch Muslime sich für Religionsfreiheit engagieren, damit sie sie dann denunzieren können als jüdische oder schwule “Lobby” oder “Parallelgesellschaft”, sie wollen, dass nur noch Schwarze gegen Rassismus aufbegehren, damit sie sie als “zornig” diffamieren können, sie wollen, dass sich nur Feministinnen gegen Machismo und Sexismus engagieren, damit sie sie als “humorlos” bespötteln können. In Wahrheit geht es gar nicht um Muslime oder Geflüchtete oder Frauen. Sie wollen alle einschüchtern, die sich einsetzen für die Freiheit des einzigartigen, abweichenden Individuellen. Deswegen müssen sich auch alle angesprochen fühlen. Deswegen lässt sich die Antwort auf Hass und Verachtung nicht einfach nur an “die Politik” delegieren. Für Terror und Gewalt sind Staatsanwaltschaften und die Ermittlungsbehörden zuständig, aber für all die alltäglichen Formen der Missachtung und der Demütigung, für all die Zurichtungen und Zuschreibungen in vermeintlich homogene Kollektive, dafür sind wir alle zuständig.
Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese sich zunehmend verrohende Welt
Was wir tun können? “Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden,” schrieb Hannah Arendt in der Vita Activa, “und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen.” Wir dürfen uns nicht wehrlos und sprachlos machen lassen. Wir können sprechen und handeln. Wir können die Verantwortung auf uns nehmen. Und das heißt: Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese sich zunehmend verrohende Welt. Dazu braucht es nur Vertrauen in das, was uns Menschen auszeichnet: die Begabung zum Anfangen. Wir können hinausgehen und etwas unterbrechen. Wir können neu geboren werden, in dem wir uns einschalten in die Welt. Wir können das, was uns hinterlassen wurde, befragen, ob es gerecht genug war, wir können das, was uns gegeben ist, abklopfen, ob es taugt, ob es inklusiv und frei genug ist – oder nicht. Wir können immer wieder anfangen, als Individuen, aber auch als Gesellschaft. Wir können die Verkrustungen wieder aufbrechen, die Strukturen, die uns beengen oder unterdrücken, auflösen, wir können austreten und miteinander suchen nach neuen, anderen Formen. Wir können neu anfangen und die alten Geschichten weiterspinnen wie einen Faden Fesselrest, der heraushängt, wir können anknüpfen oder aufknüpfen, wir können verschiedene Geschichten zusammen weben und eine andere Erzählung erzählen, eine, die offener ist, leiser auch, eine, in der jede und jeder relevant ist.
Das geht nicht allein. Dazu braucht es alle in der Zivilgesellschaft. Demokratische Geschichte wird von allen gemacht. Eine demokratische Geschichte erzählen alle, nicht nur die professionellen Erzählerinnen und Erzähler. Da ist jede und jeder relevant, alte Menschen und junge, die mit Arbeit und die ohne, die mit mehr und die mit weniger Bildung, Dragqueens und Pastoren, Unternehmerinnen oder Offiziere, jede und jeder ist wichtig, um eine Geschichte zu erzählen, in der alle angesprochen und sichtbar werden. Dafür stehen Eltern und Großeltern ein, daran arbeiten Erzieher und Lehrerinnen in den Kindergärten und Schulen, dabei zählen Polizistinnen und Sozialarbeiter, Clubbesitzer und Türsteher. Diese demokratische Geschichte eines offenen, pluralen Wir braucht Bilder und Vorbilder, auf den Ämtern und Behörden ebenso wie in den Theatern und Filmen – damit sie uns zeigen und erinnern, was und wer wir sein können.
Wir dürfen uns nicht nur als freie, säkulare, demokratische Gesellschaft behaupten, sondern wir müssen es dann auch sein. Freiheit ist nichts, das man besitzt, sondern etwas, das man tut. Säkularisierung ist kein fertiges Ding, sondern ein unabgeschlossenes Projekt. Demokratie ist keine statische Gewissheit, sondern eine dynamische Übung im Umgang mit Ungewissheiten und Kritik. Eine freie, säkulare, demokratische Gesellschaft ist etwas, das wir lernen müssen. Immer wieder. Im Zuhören aufeinander. Im Nachdenken über einander. Im gemeinsamen Sprechen und Handeln. Im wechselseitigen Respekt vor der Vielfalt der Zugehörigkeiten und individuellen Einzigartigkeiten. Und nicht zuletzt im gegenseitigen Zugestehen von Schwächen und im Verzeihen.
Ist das mühsam? Ja, total. Wird das zu Konflikten zwischen verschiedenen Praktiken und Überzeugungen kommen? Ja, gewiss. Wird es manchmal schwer sein, die jeweiligen religiösen Bezüge und die säkulare Ordnung in eine gerechte Balance zu bringen? Absolut. Aber warum sollte es auch einfach zugehen? Wir können immer wieder anfangen. Was es dazu braucht? Nicht viel: etwas Haltung, etwas lachenden Mut und nicht zuletzt die Bereitschaft, die Blickrichtung zu ändern, damit es häufiger geschieht, dass wir alle sagen: Wow. So sieht es also aus dieser Perspektive aus.
Vom Folk zur noblen Literatur
Zweiundfünfzig Jahre ist es alt, dieses Videostückchen vom Newport Folk Festival. Damals hieß es noch Folk, was Robert Allan Zimmerman da sang. Ab heute sind seine Texte geadelt. Als Literatur. Nein: große Literatur. Preiswürdige Literatur.
Hey, Mr. Tambourine Man, play a song for me
I’m not sleepy and there ain’t no place I’m going to
Hey, Mr. Tambourine Man, play a song for me
In the jingle jangle morning I’ll come following you
Though I know that evenings empire has returned into sand
Vanished from my hand
Left me blindly here to stand but still not sleeping
My weariness amazes me, I’m branded on my feet
I have no one to meet
And the ancient empty street’s too dead for dreaming
Hey, Mr. Tambourine Man, play a song for me
I’m not sleepy and there ain’t no place I’m going to
Hey, Mr. Tambourine Man, play a song for me
In the jingle jangle morning I’ll come following you
Take me on a trip upon your magic swirling ship
My senses have been stripped
My hands can’t feel to grip
My toes…
Schreiben
Franz, der blonde Richter und das verwahrloste Taxi
Bei meinem Lieblingsverleger gefunden, auf der Facebookseite von Ekkehard Faude. Wer den Titel Kneipen-Philosophien verlegt, in dem Stehcafé-Aphorismen, Bistro-Haikus und Gespräche am Nebentisch, vorwiegend aus Bayern von Thomas Glatz zu lesen sind, der kann kein schlechter Mensch sein.
hübsche spielerei vom ufer der tastaturen und aus dem land des übersetzens.
„…eine völlig verrückte Phrase, ein wirkliches Produkt der automatischen Schreibweise, die einmal, ein einziges Mal alle Buchstaben der Schreibmaschinen-Tatstur enthält: Portez ce vieux whisky au juge blond qui fume…“
//Anm.: „Bringen Sie diesen alten Whisky dem blonden Richter, der raucht“ – mit dem deutschen Äquivalent „Franz jagt im komplett verwahrlosten Taxi quer durch Bayern“ (A.d.Ü.)//
Roland Barthes; Variations sur l‘écriture. Variationen über die Schrift. Französisch-Deutsch. Übersetzt von Hans-Horst Henschen (Dieterich‘sche Verlagsbuchhandlung 2006)
Ach ja, das Kostpröbchen aus den Kneipen-Philosophien:
A: So is heid scho widdä Middwoch, morgn Donnerschdoch?
B: Morgn is Donnerschdoch.
A: Morgn is Donnerschdoch.
Also.
Adela.B: Dschüssla.
A: Adee.
Freiheit herrscht nicht
Straßenkinder
Von Afsane Bahar
Kennst du den Glanz der Tauperlen
an Zweigen und Grashalmen
beim Auftreten der ersten
morgendlichen Sonnenstrahlen
Kennst du den Tanz der Spinnweben
benetzt mit Schneesternen
bei abendlicher Brise
im schimmernden Mondschein
Kennst du den Zauber
des Gesangs verliebter Stare
mitten in der Zärtlichkeit
des frischen Grüns im April
So könntest du ein Bild malen
von meiner bewegenden Freude
wenn das Wort Straßenkinder
nur in Geschichtsbüchern vorkäme
“Verabredet war, gemeinsam alt werden zu wollen.”
Am Montag, dem zweiundzwanzigsten Februar fand die Trauerfeier für den Publizisten und Fernsehmoderator Roger Willemsen in Hamburg statt, der am siebten Februar im Alter von nur sechzig Jahren gestorben war. Sein Freund und Weggefährte, der Publizist Manfred Bissinger hielt eine bewegende Trauerrede, die vom Literaturhaus Hamburg veröffentlicht wurde.
Liebe Familie, liebe Freunde, liebe Trauergemeinde,
verabredet war, gemeinsam alt werden zu wollen. Dass ich nun hier stehe, an seiner Statt und er da liegt an meiner Statt, das macht mich verzweifelt und hilflos.
Ich bin doch längst im Herbst meines Lebens, wäre also weit vor ihm dran gewesen und er hätte mir zum Abschied eine seiner wunderbaren, liebevollen Reden gehalten. Hier auf dem Ohlsdorfer Friedhof, wo wir uns für die Zeit danach schon verabredet hatten. Damals, als ich ihm vom reservierten Grab auf einer grünen Lichtung erzählte.
Wir waren Verbündete im Geiste, keine Kumpel. Das Sie war dem gegenseitigen Respekt geschuldet. Ja, beste Freunde, das waren wir auch.
Roger Willemsen hätte seinen Nachruf mit der großen Leidenschaft geschrieben, mit der er alle Themen seines Lebens angegangen ist: Oder wie es der Kollege Nils Minkmar formulierte: »Es war ihm sehr wichtig: Der Banalität des Sterbens die Brillanz seiner Reden entgegen setzen, die Trauergemeinde agitieren für die nun gemeinsame Sache des Lebens, die Erinnerung feiern und alle in eine Raserei gegen den Tod treiben. Es gelang ihm jedes Mal.«
Mir wird es leider nicht gelingen, eine Raserei gegen den Tod anzuzetteln. Auch wenn ich wütend bin über diesen Tod, der so kalt und unbarmherzig einen der wichtigsten Intellektuellen unseres Landes zu früh aus seinem ungewöhnlichen Leben und damit aus all den kulturellen und politischen Diskursen riss, in denen er sich munter und scharfzüngig bewegen konnte wie kein Zweiter.
Bei Roger Willemsen verbanden sich die Provokation auf wundersame Weise mit dem intellektuellen Zweifel. Man sagt jetzt: er wird uns fehlen. Oder: So einer kommt nie wieder. Beides ist richtig. Doch die Redensarten beschreiben das Ausmaß unseres Verlustes bei weitem nicht. Mit Roger betrauern wir nicht nur einen wundervollen und überaus warmherzigen Menschen, wir betrauern einen Homo Intellectus, der uns alle mit seiner bedingungslosen – im Sinne von völlig voraussetzungsloser – Liebe beschenkte. Mit ihm wird auch eine Haltung zu Grabe getragen, die unserem Land noch dramatisch fehlen wird. Wie sehr seine Stimme gerade in diesen Zeiten notwendig wäre, spüren wir seit er sich vor Monaten zurückziehen musste.
Die Flüchtlingskrise hat eine Verwahrlosung der öffentlichen Debatte zur Folge, die Intellektuelle wie Kommentatoren der meinungsführenden Medien auf schreckliche Weise erfasst hat. Ein Ausnahmezustand wird herbei phantasiert, über einen Putsch gegen die Regierungschefin wird geraunt, und deren Flüchtlingspolitik in der Diktion von Rechtsradikalen als »Herrschaft des Unrechts« denunziert. Eine neue radikale Redens- und Verhaltensweise sickert vom rechten Rand in die politische Mitte. Das gilt längst nicht allein für die Politik. Wir alle kennen es aus unserem Umfeld: Bis weit in die bürgerliche Mitte hinein wuchern mittlerweile Ressentiments und Ablehnung gegenüber den Fremden, die Roger – dem weit gereisten und überaus erfolgreichen Reiseschriftsteller – immer ein Herzensanliegen gewesen sind. Er sah und hörte sehr genau hin, ob in Afghanistan oder Guantanamo ob in Eritrea oder in Marokko. Mit seiner schmerzhaft präzisen Empfindsamkeit, die so frei von jeglicher Attitüde war, entdeckte er immer wieder stellvertretend für uns das einzelne Menschenschicksal, in dem brennglasartig die Probleme unserer Welt zu Tage traten.
Roger Willemsen war vieles: Ein Tausendsassa, ein Universalgenie, der dem Idealbild der Renaissance am ehesten entsprach und der auch den Schönheiten des Lebens mit Freude zugewandt war. Seine emotionale Intelligenz, seine einmalige Präsenz haben mich, haben uns immer wieder beflügelt und angetrieben. Er galt schon früh als weiser Mann. Betrachtet man seine breit gefächerten Interessen und sein interdisziplinäres, geradezu mäanderhaftes Schaffen, dann fragt man sich, wo hatte dieser Mann seinen inneren Anker? Was hielt ihn zusammen, wenn er sich Tag für Tag in tausend Kapillaren der Gegenwart verzweigte? Ich denke, es war vor allem die Empathie, die ihn zusammenhielt. Und seine überbordende Fähigkeit zum Mitgefühl. Bei Roger Willemsen handelte es sich dabei nicht um die journalistisch-handwerkliche Taktik des sogenannten »Einfühlungsvermögens», sondern um nichts Geringeres als um ein Lebensprinzip: Er lebte die Empathie nicht nur in seinen Mikro-Beziehungen – in Freundschaften und privaten Begegnungen und in seinem beruflichen Mikrokosmos, sondern übersetzte sie auch in die Makro-Beziehungen – in gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Zusammenhänge.
Liebe Trauergemeinde, manche von uns spüren den inneren Impuls, wahrhaftig zu lieben und geben ihm nicht nach – es ist dieser Impuls, dem Roger Willemsen in seinem Leben so radikal nachgegangen ist. Der deutsche Papst Benedikt hat das in seiner Enzyklika über die Caritas gut beschrieben. Nicht dass Sie jetzt denken, dass Roger Willemsen besonders religiös war, oder ich es auf meine alten Tage noch werden könnte. Unser Freund war aus tiefster Überzeugung konfessionslos.
Und doch möchte ich heute diesen konservativen Papst zitieren, der in der ersten Enzyklika seiner Amtszeit CARITAS IN VERITATE sehr poetisch über die Liebe in der Wahrheit schrieb. Ich zitiere: »die Wahrheit muss in der ›Ökonomie‹ der Liebe gesucht, gefunden und ausgedrückt werden. Aber die Liebe muss ihrerseits im Licht der Wahrheit verstanden, bestätigt und praktiziert werden. Auf diese Weise werden wir nicht nur der von der Wahrheit erleuchteten Liebe einen Dienst erweisen, sondern wir werden auch dazu beitragen, dass sich die Wahrheit glaubwürdig erweist, indem wir ihre Authentizität und ihre Überzeugungskraft im konkreten gesellschaftlichen Leben deutlich machen.«
Viele, um nicht zu sagen alle, die hier versammelt sind, teilen das besondere Privileg der wunderbaren Begegnungen mit diesem warmherzigen, klugen und humorvollen Menschen. Jeder von uns kann einen reichen Schatz davon im Herzen verschließen. Es sind kostbare Erinnerungen.
Und viele von uns verspüren es, dass es für unseren Freund eben keine Liebe ohne Wahrheit gab und keine Wahrheit ohne Liebe. Roger konnte das so radikal leben, weil er sich schon früh unabhängig von allen wirtschaftlichen Zwängen gemacht hatte. Selbst Sachzwänge waren ihm fremd. Eine warme Schreibstube mit B 16-Vertrag an einem Lehrstuhl oder ein Verlagsjob mit AT-Zulage waren ihm keine erstrebenswerten Ziele. Da überrascht es auch wenig, wenn er auf das Angebot eines Honorars für eine abendliche Moderation mit der Bitte reagierte, man möge doch lieber Brunnen für Afghanistan stiften. Den Prospekt dafür trug er in der Jackentasche.
So selbstverständlich unabhängig erlebte ich ihn auch in der Zeit bei der »Woche«, der er von der ersten bis zur letzten Ausgabe bald zehn Jahre lang mit seiner wöchentlichen Kolumne verbunden war. Schon damals beschrieb er in seinem phänomenologischen Stil die Probleme unserer Zeit anschaulich und präzise, wie nur er es konnte. Und er analysierte treffsicher und zielgenau. Das machte ihn zu einem der herausragenden politischen Intellektuellen dieser Republik.
Er war ein durch und durch politischer Mensch. Ein Täter, der auch die Welt, die er in all ihrer Schönheit und Unvollkommenheit liebte, verbessern wollte. Seine Unabhängigkeit gab ihm Kraft zur radikalen Kritik. Die war nicht immer nur scharf – im Gegenteil, jegliche ideologische Phrasen waren ihm ein Gräuel. Es ging ihm nie ums Rechthaben, um journalistischen Narzissmus oder um esoterisches Gedusel. Es ging ihm um sein Lebensprinzip, um die Liebe in der Wahrheit. Auch deshalb engagierte er sich so ernsthaft und leidenschaftlich für die Menschen, die niemals zu Objekten seiner Berichterstattung wurden, sondern immer Subjekte ihres Lebens blieben. Von ihm stammt die wunderbare Bemerkung: ich möchte die Menschen glücklicher verlassen, als ich sie angetroffen habe. Das führte dazu, dass er in all seinen politischen Arbeiten immer auch eine Position bezog und sich ein als richtig erkanntes Anliegen sehr wohl zu eigen machen konnte. Er forderte, dass die Medien ihre Pseudoneutralität aufgeben und eindeutiger urteilen sollten. Aber natürlich wusste er auch, dass das gerade beim Engagement für Flüchtlinge Leser und Klicks kosten würde. Aber billiger war Humanität in seinen Augen nicht zu haben.
Noch vor einem Jahr gab Roger Willemsen ein Interview, in dem er zu der ausländerfeindlichen Stimmung in unserem Land gesagt hat, dass in jedem Vorurteil die Gewalt lauere: Ich zitiere einige seiner Kernsätze:
»Jede Situation, in der Ressentiment, pauschale Ablehnung, Vorurteil dominiert ist latent gewalttätig.«
»Die antimuslimische Stimmung bekommt dabei inzwischen auch bei uns bisweilen etwas verdeckt Gewaltsames.«
»Diese Aversion meint vor allem zwei Gruppierungen: die ‚fremden Fremden‘, also jene, die nicht der westeuropäisch-angloamerikanischen Welt zuzuordnen sind, vor allem aber handelt es sich um eine soziale Abwehr, denn vielfach meint man nur die Armen, denen man regelrecht parasitäre Absichten unterstellt. Es ist bedrückend: In unserem Land reisen die Menschen mehr als fast alle anderen Nationen der Welt, und doch bringen sie offenbar wenig Empathie mit.«
Seinen eigenen Anspruch beschreibt Roger Willemsen in diesem Interview so: »Die Literatur fordert ja dauernd Prozesse des Mitempfindens. Literatur muss also keinen Pamphletismus pflegen, sie braucht auch keine Romane als verkappte Leitartikel anzubieten. Indem sie ist, was sie ist – Veranschaulichung, sinnliches Erkennen, Kritik, Imagination des Besseren –, in diesem Sinne ist sie auch aufklärerisch.«
Diese aufklärerische Kritik und die Imagination des Besseren zählen zu den vornehmsten Aufgaben der Intellektuellen und Journalisten.
Der Tod von Roger Willemsen macht uns schlagartig und schmerzhaft klar, wie wenige es noch von seiner Art gibt, die ihren Aufgaben und ihrer Verantwortung in der Gesellschaft wirklich nachkommen.
Liebe Freunde, Roger Willemsen ist nicht mehr da und kann das folglich nicht mehr stellvertretend für uns übernehmen, so wie er es in den vergangenen Jahrzehnten ganz selbstverständlich geschultert hatte. Er war dabei immer so großzügig, es uns nicht vorzuwerfen oder spüren zu lassen, dass es auf ihm lastete, die notwendigen Wahrheiten auszusprechen. Wir hatten es uns mit ihm behaglich eingerichtet. Wer weiß, wie oft er damit gehadert hat, dass wir – seine Freunde – ihn nicht ausreichend unterstützt haben? Er hat mit seiner melancholischen, aber heiteren Leichtigkeit die ganze Kraft aus sich selbst geschöpft. Auch dafür sind wir ihm zu Dank verpflichtet. Es ist jetzt an uns, liebe Trauergemeinde, an seiner Statt die Stimme zu erheben. Roger Willemsen jedenfalls hätte sich von uns mehr Engagement für die gemeinsame Sache des Lebens gewünscht: Er wollte, dass wir den Kampf gegen die Verzagtheit aufnehmen.
Lieber Roger, versprochen: Wir sehen uns wieder, hier auf dem Ohlsdorfer Friedhof, wenn das Sonnenlicht durch die Bäume bricht und die Luft zum Tanzen bringt und uns wärmt. In aller Heiterkeit…
Hoffentlich.

