Tag: 31. August 2023

Heimat

Eine auf Heimat gründende, kollektive »Identität« ist im Wesentlichen Ressentiment, ist exklusiv, nicht inklusiv, sie sucht in erster Linie Abgrenzung und betreibt Ausgrenzung – und mündet, historisch gesehen, immer in Gewalt. Gerade in Europa sowie in Afrika und Teilen Asiens, wo in den vergangenen Jahrhunderten durch Kriege und willkürliche Grenzziehungen so viel Heimat geraubt und verloren und der Heimatbegriff durch wechselnde Ideologien missbraucht wurde, ist die Frage nach der je eigenen Verortung immer schon prekär.

Wo gehöre ich hin? Wo bin ich in dieser globalisierten, immer einförmiger werdenden Welt zu Hause? Nirgends? Nein, überall! Überall dort, wo ich mich wohlfühle, wo meine Rechte garantiert sind, wo ich in meinem »Sosein« akzeptiert werde, wo ich frei bin. Gerade letzteres ist entscheidend. Das wusste schon einer der frühen deutschen Demokraten, der Philosoph und Revolutionär Arnold Ruge: »Die Freiheit ist nicht national«, sie verträgt sich nicht mit landsmannschaftlicher, lokaler und regionaler Verhaftung, ebenso wenig mit patriotischem Getöse. Unter diesen – leider den üblichen – Bedingungen wird Heimat zum Kampfbegriff. Dabei kann sie sich erst jenseits solcher »Verhärtungen« wirklich entfalten.

Nur im Erleben von Vielfalt und Unterschiedlichkeit können meine »Heimatsinne« nach und nach wachsen und am Ende in Gesten, Landschaften und Lebensgeschichten, in Begegnungen und menschlichen Beziehungen ihr selbst gewähltes zuhause finden. An jedem Ort. (…) Sobald die Einhegung des Gemeinsamen zur Wagenburg wird – und wann und wo wäre das jemals nicht passiert? –, um sich von anderen Gruppen abzugrenzen und zu schützen, ist es zur »Feindstellung« und Kampfbereitschaft nicht mehr weit. Das Soziale schlägt in Asoziales um und wird konfrontativ – und am Ende zum Weg in die Sartre’sche Hölle: »Die Hölle, das sind die anderen.«

Jede und jeder wird – auch aus privaten Erfahrungen – bestätigen können, dass das einer die liebsten Irrwege von uns Menschen ist: Neues, Fremdes, Anderes ablehnen und bekämpfen! Dabei sollten wir – ebenfalls auch wieder aus privaten Erfahrungen – wissen, dass das Gegenteil richtig ist: Das Neue ist nicht der Feind des Alten, so wenig wie das Fremde der Feind des Eigenen ist. Aber die Spannung zwischen diesen beiden Polen prägt das gesellschaftliche Leben seit jeher. Historisch gesehen waren dabei immer jene Gesellschaften am erfolgreichsten, die auf Integration statt auf Ausgrenzung gesetzt haben, die also bereit waren, fremde Einflüsse und neue Impulse verändernd wirksam werden zu lassen. Genau darauf käme es jetzt an. Integration ist etwas anderes und ist mehr als Assimilation. Es geht nicht um die Anpassung an das je Gegebene, sozialer und humaner Fortschritt bestand und besteht immer in der Überwindung des Bestehenden, nicht in dessen Erhalt. Es geht darum, Mischungsverhältnisse zu finden, in denen das Eine durch das Andere erweitert, bereichert wird. Hierbei könnten wir uns durchaus die Kinder zum Vorbild nehmen, deren Weltaneignung genauso funktioniert. Solche Offenheit, wie sie den Kindern noch eigen ist, brauchen wir gegenwärtig mehr denn je. Denn wir sind derzeit mit Veränderungstendenzen konfrontiert, wie sie in der Menschheitsgeschichte ihresgleichen suchen. Irgendein Rückbezug auf einen romantisch verbrämten, traditionellen, rückwärtsgewandten Heimatbegriff wird uns dabei ganz sicher nicht helfen. Russland und die Ukraine zeigen gerade, wohin das führt.

Rüdiger Dammann, Heimat-Klänge, in: Ossietzky