Schlagwort: Konfuzius

Das ganze Leben

Nein, ich lese nicht morgens als erstes die Todesanzeigen. Nein, ich habe auch kein morbides Vergnügen an Todesanzeigentextanalysen. Aber was soll ich denken, wenn in der Anzeige über den Tod eines Dreiundzwanzigjährigen zu lesen ist, er habe sein ganzes Leben noch vor sich gehabt? Geht es uns Lebenden nicht ebenso? Haben wir nicht alle noch unser ganzes Leben vor uns? Was ist das, das ganze Leben, unser ganzes Leben? Wüsten wir nicht alle gerne, was unser ganzes Leben ist? Wie lange es noch dauern kann?  Wann und wie es zu Ende gehen wird? Das vergangene Leben ist gelebt. Lebendig nur noch in der Erinnerung. Der eigenen und der anderer. Aber auch nicht das ganze vergangene Leben lebt in Erinnerungen weiter. Das ganze Leben. Ein unpassendes Bild. Als könne man von einem ganzen Leben erst ab einer besonderen Jahresanzahl sprechen. Ist es nicht ein ganzes Leben, das jung Verstorbene gelebt haben? Ab wann wird es ein ganzes Leben? Unter oder über sechzig, siebzig, achtzig Jahren? Der Tod eines jeden Menschen erschüttert. Gleich, wie alt er war, als er verstorben ist. Er wird uns nur rätselhafter, wenn es einen jungen Menschen ereilt. Der Tod an sich ist sinnlos. Er kann nicht sinnloser werden, wenn junge oder jüngere Menschen sterben. Es ist ungerecht, so sagt man, wenn Junge sterben, Kinder, Jugendliche. Ungerecht und unnatürlich. Der Tod an sich ist ungerecht. Nicht unnatürlich. Aber ungerecht. Ungerecht ist es gewiß auch, wenn Alte sterben. Auch sie hätten zumeist noch ein gehöriges Leben vor sich gehabt. Konfuzius, dem chinesischen Philosophen, wird der Satz zugeschrieben: “Wir wissen noch nichts vom Leben, wie könnten wir etwas über den Tod wissen?”