Kategorie: Fundsachen

Im Weihnachtswahnsinn

In der Vormoderne war in den kurzen Tagen und langen Nächten wenig los, die Landwirtschaft ruhte weitgehend, Reisen waren unmöglich. Um die Zeit herumzukriegen, wurde geschnitzt, dekoriert, gekocht und gebacken und alles Mögliche produziert. Zeit in Tonnen, es war langweilig. Heute ist das bekanntlich ganz anders, aber man tut so, als sei es eine ruhige Saison und am Ende reicht die To-do-Liste rund um den Äquator. Der Verstand muss an diesen Tagen ausgeschaltet bleiben. An der Weihnachtsgeschichte ist alles aus diversen Mythen zusammentragen , leider passen die Teile nicht gut zusammen. Was haben Santa Claus und sein Rentier mit der Krippe von Bethlehem zu tun? Nicht nachdenken. Es gab keine Volkszählung und Jesus von Nazareth hieß so, weil er aus diesem Ort kam und nicht aus Bethlehem. Es gab da keinen Weihnachtsbaum und die bei seiner Geburt herumstehenden Personen waren eher seine Geschwister, Verwandte und andere Nachbarn, die ihre Zeitgenossen wohl nicht für heilige Könige gehalten hätten. War das Baby nun ein Jude, ein Palästinenser? Eine ewige Frage, die die Absurdität heutiger Konflikte verdeutlicht.

Nils Minkmar, Im Weihnachtswahnsinn, in: Der Siebte Tag

Beitragsfoto © Martin Kraft, CC BY-SA 3.0

Kein linkes Thema

Ich frage mich immer, warum sich konservative Bewegungen nicht an die Spitze von Klima- und Umweltschutz stellen? Eigentlich ist es kein linkes Thema. Die Bewahrung der gewachsenen Natur passt viel besser in die politische Tradition von rechts. Aber heute ist daran nicht zu denken, besonders in den USA ist die Gegnerschaft zum Klimaschutz und zu erneuerbaren Energien ein irrationales politisches Glaubensbekenntnis, abseits von jeglicher Rationalität. Die Mehrheit der amerikanischen Bürgerinnen und Bürger stehen Maßnahmen des Umweltschutzes zwar positiv gegenüber, aber das politische Feld ist völlig verseucht. Warum kam das so? Schließlich war es Nixon, der mit Umweltschutz begann und selbst George W Bush nahm sich des Themas an. Diese Untersuchung der Historikerin Ella Müller geht dieses sehr aktuellen Frage nach. Ich bin erst am Anfang, aber es entwickelt sich zu einem echten Politthriller.

Nils. Minkmar, Utopie mit U-Bahnanschluss, in: Newsletter Der siebte Tag

Israel: Falsche Wahrheiten und richtige Falschheiten

Nach dem grausamen Massaker der Hamas fällt es schwer, die richtigen Worte zu finden. Denn so vieles ist falsch und richtig zugleich.

Die Welt steht in Flammen, und alles ist falsch und richtig zugleich, alles voller falscher Wahrheiten und wahrer Falschheiten. Das grauenhafte Massaker der Hamas an mehr als 1400 Menschen, in der übergroßen Mehrheit Zivilisten, in der übergroßen Mehrzahl jüdische Israelis, ist ein auch nach Maßstäben von Kriegsverbrechen maßloses Verbrechen. Es ist unvergleichlich in seinem Ausmaß, unvergleichlich in Grausamkeit und Gnadenlosigkeit und unvergleichlich im Terror, den es verbreitet und bewirkt, also in der Angst und Panik, in die es eine ganze Gesellschaft versetzt. Eine ganze Nation ist in Panik, in Schock und im Zustand allgegenwärtiger Bedrohungsgefühle.

Richtig ist, dass es keinen Staat der Welt gibt, der nach einem solchen Geschehen auf eine massive militärische Antwort verzichten könnte. Massiv falsch, eine solche monströse Tat erklärend mit Unrecht, Leid, Unterdrückung und Herabsetzung zu „kontextualisieren“ (ganz zu schweigen von rechtfertigen), also durch das, was den Palästinensern in 75 Jahren Nahostkonflikt angetan wurde. Ebenso falsch ist zugleich, die Geschichte von Besatzung, Unrecht, Terror, die Spirale von Gewalt und den Übergang von Gegnerschaft in Hass, die zertretenen Pflanzen von Hoffnung, nicht zu erwähnen.

Geschehnisse wiederum, die alle Beteiligten mit Geschichte und Geschichten ausstatten, die jeweils andere Seite als die eigentlich Schuldigen anzusehen. Die Gräuel der Hamas machen die Kritik an Besatzung, Abschnürung und Siedlerradikalismus nicht falsch, genauso wie, umgekehrt, letztere die Gräuel der Hamas um nichts weniger widerwärtig machen. Wer hier aufzurechnen beginnt, hat schon verloren. Wer auch nur glaubt, damit auch nur ein wenig dieses Massaker rechtfertigen zu können, hat seinen moralischen Kompass verloren. Und umgekehrt. Alles ist wahr und falsch zugleich.

Der Jargon des Antikolonialismus

Der Massenmord macht Benjamin Netanjahu, der böse Geist der israelischen Innenpolitik seit 20 Jahren und Kraft der Zerstörung, nicht zu einem engelsgleichen Unschuldslamm, als welches er sich gerne durch Meinungsmanipulation hinstellt. Abstrus sind seine Versuche, jede Kritik an der rechtsradikalen Politik seiner Regierungen als „antisemitisch“ zu framen, aber nicht weniger abstrus, nein, noch abstruser, sind alle Versuche, mit Rhetoriken von „Antiimperialismus“ oder „Anti- oder Postkolonialismus“ die Blutorgien der Hamas irgendwie als nachvollziehbare Widerstandshandlungen geschundener, kolonisierter Seelen hinzubiegen. Letzteres zeigt nebenbei wie problematisch die Schemata, der ganze Jargon und die Phrasen postkolonialer Theorie offenbar sind, wenn heutzutage sowohl Putin mit diesen Begrifflichkeiten operieren kann (der diese Rhetoriken klaut, um sich als Widerstandskämpfer gegen westliche Dominanz zu kostümieren), und auch islamistische Meuchelmörder diesen Jargon missbrauchen können. Falsch ist es, den Antisemitismus zu leugnen, den Hass, der Juden entgegenschlägt, ihn kleinzureden, ihn zu ignorieren, und genauso falsch ist, den Antisemitismusvorwurf zum billigen sprachpolizeilichen PR-Instrument zu verwandeln, mit dem jeder und jede moralisch erledigt wird, der die Dinge anders beurteilt als die rechtsradikalen israelischen Regierungsfunktionäre.

Dauernd ist man versucht „Ja“ und „Nein“ zugleich zu schreien.

Es ist auch noch nicht einmal der Vorhalt muslimischer Stimmen falsch, dass wir im Westen palästinensische Opfer israelischer Politik oder generell arabische Opfer westlicher Politik (von Irak bis Afghanistan bis Syrien) mit einem Achselzucken abtun, dass sie es kaum als Meldung in die Nachrichten schaffen, im Unterschied zu „unseren“ Opfern islamistischen Terrors. Der Vorwurf der Doppelstandards und der Heuchelei ist zumindest verständlich und nachvollziehbar, aber umgekehrt ist es der falscheste, unpassendste Augenblick, diesen Vorhalt vorzubringen, angesichts dieses grauenhaften Massenmordes. Wenn man gegen den Tod unschuldiger palästinensischer Opfer demonstrieren will, wären andere Gelegenheiten womöglich angebrachter. Jubelfeiern für die Ermordung von 1400 junger Israelis, von Buben, von Mädchen, von Alten, von Greisen, von Kindern und Jugendlichen, von Vätern und Müttern, sind vermutlich nicht die passendste Gelegenheit.

Wenn sich das Richtige falsch anhört

Bei so vielem, das vorgebracht wird, ist das bisschen Richtige, die Prise Wahrheit, viel zu oft erdrückt vom Falschen, vom Böswilligen, vielleicht auch da und dort nur vom Dummen. Wahrheiten fallen sich gegenseitig ins Wort: Gewiss ist es richtig, dass den Opfern der Hamas-Anschläge Gesicht gegeben wird, dass die Ermordeten und Geschändeten keine bloße anonyme Zahl in der Opferstatistik bleiben, und genauso richtig ist, wenn muslimische Menschen meinen, dass uns die Opfer westlicher militärischer Aktionen nie kümmern, wir das Leid in Gaza desinteressiert ignoriert haben. Wenn zerfetzte afghanische Kinder bei uns „Collateral Damage“ heißen, hat man einen schweren Stand, hier Doppelstandards zu dementieren. Falsch fühlt sich an, die Richtigkeit oder Falschheit solcher Aufrechnungen überhaupt zu diskutieren, ebenso falsch aber auch, sie einfach ignorant von sich zu weisen.

Wahr ist, seit Jahrzehnten schon und seit Jahrzehnten von der israelischen Friedensbewegung betont, dass Besatzung und koloniale Gewalt sowohl die Besatzer wie auch die Besetzten verroht, falsch ist zugleich, das auch nur irgendwie als Legitimation zu benützen, oder gar in ein moralisches Freispiel von der Art zu verwandeln, dass der von den Umständen Verrohte gleichsam immer freigesprochen ist, als wäre er als Opfer von Umständen befreit von jedem Urteil.

Den islamistischen Fanatismus der Hamas, deren radikal-konservative Reinheitsgebote, den Manichäismus von Freund und Feind, und deren Kriegsverbrechen irgendwie als vergleichbar mit nationalen Befreiungsbewegungen vergangener Zeiten hinzustellen, ist, neben allem weiteren, übrigens auch eine Beleidigung für die allermeisten Befreiungsbewegungen. Nichts auch nur annähernd Ähnliches hat irgendeine antikoloniale Bewegung mit legitimen Befreiungszielen jemals getan.

Falsch ist die konfrontative Kriegs-Anfeuerungsrhetorik, dass Israel jede Unterstützung ohne Wenn und Aber und ohne jeden Vorbehalt verdiene, aber falsch ist zugleich, Israel diese Unterstützung zu versagen. Ich ertappe mich bei der Lektüre und beim Nachrichtenschauen, die meisten Worte und Sätze hohl und falsch zu empfinden, als würde die Sprache fehlen für das Richtige.

Als wäre die Sprache krank geworden und die Worte fehlen, um das alles akkurat zu beschreiben.

Die Naivitätsfalle

Israel hat das Recht, massiv zu reagieren, und eine Zerschlagung der Hamas ist nach dieser Tat ein mehr als legitimes Kriegsziel. Die Frage ist nur, ob es irgendwie praktisch-realistisch erreichbar sein könnte. Israel hat höchstwahrscheinlich noch nicht einmal eine echte Alternative dazu, es zu versuchen. Eine Gegenreaktion auf ein Kriegsverbrechen entbindet zugleich nicht von der Pflicht, keine Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung zu begehen. Zugleich soll mir jemand sagen, wie ein militärischer Einsatz gegen eine Terrormiliz ablaufen soll, die sich in dicht bewohntem Gebiet inmitten der Zivilbevölkerung verschanzt, ohne dass massive Kriegsverbrechen einfach eine logische Folge sein werden. Eine Binsenweisheit, dass nur eine politische Lösung, angeschoben von Humanisten und Friedensfreunden in den verschiedensten Nationen (und vielleicht unterstützt durch praktische Vernunft von Realpolitikern) eine Lösung bringen kann. Aber es bleibt eine schale Binsenwahrheit, deren abgeschmackter Sound einem auch nicht verborgen bleiben kann, weil wir wissen, wie aussichtslos das ist nach jahrzehntelangen Geschehnissen der gegenseitigen Gewalt. Selbst das Richtige fühlt sich als hohle Phrase an. Weil Hoffnung naiv klingt, flüchtet man entweder in die Sprache des Krieges oder in die stille Deprimiertheit.

Es kommt nicht oft vor, dass ich beim Tod eines Staatsmannes weine. Das letzte Mal tat ich das, als ich mit offenem Mund vor dem TV-Gerät saß und die Nachrichten und Bilder von der Ermordung Yitzhak Rabins sah. Das war 1995. Beinahe dreißig Jahre ist das her. Wer jünger ist als ich, der ich auch langsam ins Zeitzeugenalter komme, hat nicht einmal mehr eine Erinnerung daran, dass es einmal eine Hoffnung gab, die zerstört werden konnte.  

Robert Misik, Misiks Ruhestörung, in: Zack Zack

“Wortgranaten-Litanei”

Das meine ich, wenn ich sage: Schreibt den AfD-Steigbügelhaltern. Sie sie sind so fest mit ihrer Blase verhandelt, dass sie schon gar nicht mehr merken, wie einfältig, wie primitiv, wie weit jenseits von ernsthaftem Journalismus ihr Propagandageschrei ist. Warum hat das mit Journalismus nichts mehr zu tun? Weil: “Elitenideologie”, “Sprachjakobiner und Cancel-Orgien”, “Verbieten von Indianern und Schweineschnitzeln”, “großstädtische Bourgeoisie”, “rotgrüne Umerziehungs- und Moralträume”, “Flüchtlinge aufzunehmen, die, wie in Videos zu sehen, die Hamas-Barbarei bejubeln” – man gähnt beim Lesen angesichts dieser ewig wiedergekäuten Wortgranaten-Litanei. Viel Meinung, kaum Fakten, und die wenigen Fakten zum Popanz aufgeblasen. Elitenideologie – was ist das? Zählen der Porschefahrer Poschardt und der Privatflugzeugeigner Merz nicht auch zu den “Eliten”? Cancel-Orgien – wann, wo, wieviele, und wer cancelt wen? Der Alltag an unseren Hochschulen läuft zu 99 Prozent reibungslos. Sprachjakobiner – wenn Herr Ploß in Hamburg die igiitigitt-Gendersprache verbieten will, ist er dann nicht auch ein Jakobiner, nur von der anderen Seite? Ist irgendein Bundesbürger bekannt, dem es bei Strafe verboten wurde, sein Schweineschnitzel zu essen? Ist schon mal die Polizei gekommen, weil irgendwo in Deutschland jemand Indianer gesagt hat? Will wiederum Herr Poschardt verbieten, über den Zusammenhang von Fleischkonsum und Klima nachzudenken und wissenschaftliche Ergebnisse dazu zu veröffentlichen? Umerziehung – wer zieht wann wen um mit welchem Ziel? Ist es Umerziehung, wenn in Kneipen das Rauchen verboten wird, das Fahren mit Alkohol? Soll es Umerziehung sein, wenn angesichts des Klimawandels bestimmte gesetzliche Maßnahmen ergriffen werden, um den CO2-Ausstoß zu senken? Flüchtlinge, die den Hamas-Terror bejubeln – wieviele sind es in wievielen Städten? Ich lebe hier in Mainz, mir ist nichts bekannt von Flüchtlingsjubel über das Hamas-Massaker, auch aus den Migrantenhochburgen Frankfurt, Offenbach höre ich nichts. Dagegen erlebe ich täglich, wie reibungslos das Zusammenleben in diesen Vielvölkerstädten funktioniert. Herr Poschardt ist trunken vor Freude, dass er und Konsorten während der letzten Monate mit ihren Propaganda- und Desinformationskampagnen den Wahlerfolg der AfD herbeigeschrieben haben. Eine rechtsradikale Partei mit Macht auszustatten ist anscheinend ein kleineres Übel als das Regiertwerden von demokratischen Parteien in schwierigen Zeiten. Darum bitte: schreibt ihm. Macht ihm klar, dass es außer seiner Blase auch noch andere Menschen gibt, die anders denken als er. Fordert ihn auf, seine Behauptungen zu belegen, seine Wortgranaten mit Inhalten zu unterfüttern. Fragt ihn nach seinem journalistischen Ethos, seinem Verantwortungsbewusstsein. Und fragt ihn, wie weit er noch gehen will, ob er etwa schon zu Steve Bannon unterwegs ist, dem ehemaligen Berater Donald Trumps, der als dessen Wahlkampfstrategie empfohlen hat: Flute das Netz mit Shit. Pumpe an den seriösen Medien vorbei soviel unsinniges, hetzerisches, widersprüchliches, absurdes, faktenverdrehendes Zeug ins Internet, dass die Leute zuerst nicht mehr wissen, was und wem sie glauben sollen, und danach anfangen zu glauben, dass es prinzipiell gar keine gesicherten Fakten gibt.

Christian Nürnberger auf seiner Facebookseite

© Christian Nürnberger CC BY-SA 4.0

Bürgerliche Maskierung

Heribert Prantl, Autor und Kolumnist der Süddeutschen Zeitung