Monat: November 2021

Der abgemagerte Schatten von Selbstverwirklichung

Ohne öffentliche Ordnung in Recht und Staat wäre kein Individuum mehr als ein paar Tage überlebensfähig. Wenn Chaos auf den Straßen herrscht, müssen sich die Einzelnen in den Schutz Stärkerer, in der Regel von Clans und Familienverbänden, flüchten. Nur in befriedeten, gewaltarmen, täglich kleinteilig kooperierenden Gesellschaften kann Individualismus zu einer Massenerscheinung werden. Die wichtigste jüngere Voraussetzung schließlich sind die kollektiven Sicherungssysteme, also der Sozialstaat. Ohne Kranken- und Rentenkassen, ohne Arbeitslosengeld wären die Einzelnen ihren Familien so gnadenlos ausgeliefert wie im neunzehnten Jahrhundert noch jene unverheirateten Frauen und “alten Jungfern”, die als “Tanten” am Rande alter Weihnachts- und Hochzeitsfotografien figurieren. Auch sie konnten sich erst durch Berufsfreiheit und Sozialstaat befreien.

Warum an diese Trivialitäten erinnern? Weil die Pandemie unbarmherzig das geistige Debakel des gegenwärtigen Liberalismus offenlegt: “Freiheit” ist hier auf die Schrumpfform des “Ich will” oder “Ich will nicht” reduziert, es ist der abgemagerte Schatten von “Selbstverwirklichung”. Vor ein paar Tagen twitterte ein junger Liberaler, er habe eigentlich vorgehabt, sich ein drittes Mal impfen zu lassen, doch seit so viel Druck aufgebaut werde, müsse er sich das noch einmal überlegen.

Kindischer Trotz als “Freiheit” – so tief sind Teile selbst des politischen Liberalismus in Deutschland gesunken. In Ostdeutschland wird solcher Trotz von den absichtsvoll verlängerten Erfahrungen mit einer vom autoritären Kollektiv auferlegten Solidarität in der DDR befeuert. Es ist ein Freiheitsbegriff, der nur in Abwehr besteht und nichts Positives mehr will. Der Ausgleich zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, der in Kooperation besteht, ist ihm fremd.

Der Weg der Pandemiebekämpfung muss zwischen dem falschen Einmütigkeitsversprechen, das gesellschaftliche Konflikte verleugnet, und einem ebenso falschen Radikalindividualismus gefunden werden. Das ist die anspruchsvolle Aufgabe des politischen Liberalismus.

Es ist vor allem Aufgabe und Funktion der FDP, diesen Weg zu finden. Sonst kann die Pandemie mit steigenden Sterbeziffern zu ihrem Endspiel werden.

Gustav Seibt, Pandemie und Politikversagen. Das Endspiel des Liberalismus, in: Süddeutsche Zeitung

“Vom Querdenkerstuss ins Bockshorn gejagt”

Die politische Klasse in Deutschland hat sich vom Querdenkerstuss ins Bockshorn jagen lassen. Mit diesem wuchtigen Satz beginnt Frank Hoffmann seinen Beitrag im Hauptstadtbrief von diesem Sonntag, überschrieben mit: Die Angst vor den Lärmenden. Christian Drosten, Deutschlands führender Coronavirus-Forscher habe in seinem aktuellen Podcast in einem Nebensatz unmerklich sehr viel über die Politik in Deutschland in dieser Phase der Pandemie gesagt: „Es gibt nach meiner Wahrnehmung seit längerem schon keine Politikberatung mehr.“ Sollte diese These stimmen, so Hoffmann weiter, zögen die Politikerinnen und Politiker im Land der Dichter und Denker seit Monaten keinen Nutzen aus dem Besten, was die Republik an Wissenschaft in dieser Pandemie zu bieten hat. Wer den Weg in diesem Covid-Winter in Deutschland verfolge und die politischen Entscheidungen mit jenen in Frankreich, Spanien oder Portugal vergleicht – der könne auch nur zum Schluss kommen, dass in der Politik keiner mehr der Wissenschaft zuhört. Den letzten Beweis liefere der Satz des bayerischen Gesundheitsministers, der unlängst davon fabulierte, die aktuelle Entwicklung wäre „nicht vorhersehbar“ gewesen. Dabei findet nunmehr lediglich statt, was die übergroße Mehrheit der fachkundigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für Deutschland seit Monaten bereits voraussagt. Die politische Kommunikation liegt im argen. Impfen ist zwar eine sensible Angelegenheit. Doch weder der noch amtierende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) noch irgendeiner der regierenden Länderchefs habe, so Hoffmann, in den vergangenen Monaten deutlich gemacht, worin der Unterschied zwischen der Impfspritze und der Infektion durch Sars-CoV-2 liegt. Dabei sei dies einfach: “Mit dem Impfstoff gelangt kontrolliert mRNA in den Körper, bleibt dort etwa sechs Wochen und animiert das körpereigene Immunsystem, im Falle eines Falles auf das Coronavirus anzuspringen. Bei einer Infektion dagegen gelangt ein Vielfaches an fremder mRNA in den Körper und ‘vieles andere’, von dem die Wissenschaft bis heute nicht weiß, was es genau ist und was es langfristig Schädliches anrichten kann, sagt der Berliner Komplexitätsforscher Brockmann. Eigentlich recht einfach.” In Deutschland aber präge die laute Minderheit der Coronaleugner, der totalen Impfgegner, seit Monaten den politischen Diskurs und die Politik habe der kleinen Gruppe politische Hebelwirkung eingeräumt gegenüber der übergroßen Mehrheit dieses Landes. Deutschland werde nun auch im kommenden Sommer sehr wahrscheinlich Covid-19 nicht hinter sich haben, anders als Frankreich, Spanien, Portugal oder Italien. Dort schließe das Virus jetzt die „Impflücken“, so Christian Drosten, indem es den ungeimpften Teil der Bevölkerung immunisiere. Deutschland gehöre nicht zu dieser Ländergruppe, die im nächsten Jahr mit Corona fertig sei.

“Das große Sieb der Pandemie”

(…)
Letztes Wochenende las ich in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit einer Intensivärztin, die berichtete, wie sehr sich die Zusammensetzung der Patienten auf ihrer Station verändert habe seit letztem Jahr. Ein “Potpourri schwieriger Charaktere” sei das mittlerweile. Schwierige Menschen, die Schwierigkeiten machen. Die sich dauernd beschweren, dauernd Sonderwünsche haben, dauernd gekränkt sind, sich dauernd aufregen müssen. Eine ganz heterogene Gruppe, Lebensalter, sozialer Status, Geschlecht, Herkunft, aber einander ähnlich darin, dass sie es nicht leicht mit sich und anderen haben. Diese schwierigen Charaktere schlagen jetzt in den Intensivstationen auf, selbstverschuldet und in immer konzentrierterer Form, und bringen dort die Geduld und Leidensfähigkeit der ohnehin schon überlasteten Belegschaft ans Limit und darüber hinaus.

Die Geimpften gehen ins Konzert. Die Ungeimpften landen auf der Intensivstation. Wie ein Sieb trennt und filtert die Pandemie die Gesellschaft in eine Mehrheit, die mehr oder weniger glatt durchs Raster rieselt, und eine Minderheit, die hängen bleibt. Eine Entmischung findet da statt. Was sich da sammelt und abtrennt, sind die Schwierigen, die Stressmacher und Streitsucher, die irgendwie und irgendwann mal einen mitbekommen haben in ihrem Leben, wofür sie ja nichts können. Die den Nachrichten und den Ärzten und denen da oben und überhaupt so leicht nichts und niemandem mehr trauen. Schwierig waren sie im Zweifel schon immer, aber, um im Bild zu bleiben, als Teil eines einigermaßen homogenen Korngrößenspektrums. Dann kam das große Sieb der Pandemie.

So, here we are. Was sich da jetzt getrennt gegenübersteht, sind nicht Interessen, Präferenzen, nicht mal Ideologien. Nichts, was man politisch verhandeln könnte. Ungeimpft bleiben wollen (im Unterschied dazu, sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen zu können) ist ja nicht deshalb ein Problem, weil es sich um einen abweichenden Lebensentwurf handelt, sondern weil es andere in Gefahr bringt. Andere Ungeimpfte, darunter durchaus unfreiwillig Ungeimpfte, aber mitnichten nur die. Und zwar ohne plausibel machen zu können und vielfach auch nur zu wollen, warum und wofür. Schwierige Gefühle sind keine Rechtfertigung, andere in Gefahr zu bringen. Erwachsene Leute, die aus freien Stücken eine Entscheidung treffen aus welchen Motiven und welcher Seelenlage heraus auch immer, haben für die Folgen einzustehen. Alles andere wäre Paternalismus.

Das Pandemie-Sieb hat zur Folge, dass sich die darin Ausgesiebten immer mehr wie eine bedrängte Minderheit fühlen mögen. Sie würden diskriminiert, klagen die Schwierigen vielleicht, aber das stimmt nicht. Sie werden nicht wegen ihres Schwierigseins diskriminiert, sondern für ihr eigenes, selbst zu verantwortendes Tun und Unterlassen haftbar gemacht. Ja, sie sind eine Minderheit, aber das heißt erst mal ja nur, dass sie sich überstimmen zu lassen haben, wenn sich eine Mehrheit dafür findet, die von ihr ausgehende Gefahr mit erforderlichen, geeigneten und angemessenen Eingriffen in ihre individuelle Freiheit abzuwehren. Wie man eine direkte oder indirekte Impfpflicht so gestaltet, dass sie effektiv ist, mögen andere beurteilen, aber einen prinzipiellen Einwand dagegen außer der Furcht davor, mit den Schwierigen noch mehr Schwierigkeiten zu bekommen, kann ich nicht erkennen. Wenn es ohne geht, dann um so besser. Aber nötigenfalls kann das Recht auf körperliche Unversehrtheit aufgrund verhältnismäßiger Gesetze beschränkt werden (Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG). Anders als übrigens Sophie Hungers Grundrecht auf Kunstfreiheit.

Max Steinbeis, Die Schwierigen. Die Geimpften gehen ins Konzert. Die Ungeimpften landen auf der Intensivstation., Verfassungsblog

Johann Georg Elser 

Da war ich am Samstag doch ein wenig zu flott, als ich ahnungslos den achten November zum Tag mit privater, aber kaum historischer Bedeutung erklärte. Am achten November Neunzehnhundertneununddreißig nämlich verübte der Kunstschreiner und Widerstandskämpfer Johann Georg Elser im Münchner Bürgerbräukeller ein Sprengstoffattentat auf Adolf Hitler und nahezu die gesamte nationalsozialistische Führungsspitze aus, das nur knapp scheiterte. Elser war früh ein Gegner des Nationalsozialismus, verweigerte nach Neunzehnhundertdreiunddreißig den Hitlergruß und nach Augenzeugenberichten verließ er den Raum, wenn Hitler-Reden im Rundfunk übertragen wurden. In seiner Vernehmung bei der Gestapo sagte er: „Die von mir angestellten Betrachtungen zeitigten das Ergebnis, dass die Verhältnisse in Deutschland nur durch eine Beseitigung der augenblicklichen Führung geändert werden könnten. Unter der Führung verstand ich die ‚Obersten‘, ich meine damit Hitler, Göring und Goebbels. Durch meine Überlegungen kam ich zu der Überzeugung, dass durch die Beseitigung dieser drei Männer andere Männer an die Regierung kommen, die an das Ausland keine untragbaren Forderungen stellen, die kein fremdes Land einbeziehen wollen und die für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse der Arbeiterschaft Sorge tragen werden. Elser wollte die führenden politischen Personen des NS-Staates mit einer Zeitbombe ausschalten und so den etwa zwei Monate zuvor von Deutschland ausgelösten Krieg gegen Polen, der sich zum Zweiten Weltkrieg ausgeweitet hatte, im Alleingang stoppen. Am achten November Neunzehnhundertneununddreißig waren im Münchener Bürgerbräukeller etwa eintausendfünfhundert bis zweitausend Zuhörer, nach anderen Angaben sogar dreitausend Zuhörer, darunter ein großer Teil der NS-Führungsspitze, zum Gedenken an den Hitlerputsch Neunzehnhundertdreiundzwanzig versammelt. Weil Hitlers geplanter Rückflug nach Berlin wegen Nebels ausfiel und er stattdessen auf einen Sonderzug ausweichen musste, beendete er seinen Aufenthalt im Bürgerbräukeller früher als von Elser erwartet. Er verließ mit seinem Führungsstab das Gebäude bereits dreizehn Minuten vor der Explosion der Zeitbombe. Die Bombe explodierte exakt zu der von Elser vorgesehenen Zeit. Die Explosion des Sprengsatzes verwüstete den Saal, in dem sich zu diesem Zeitpunkt nur noch hundertzwanzig bis hundertfünfzig Menschen aufhielten. Sie tötete acht und verletzte siebenundfünfzig Personen, davon fünfzehn schwer. Das Explosionsgeräusch war für Radiohörer, die die Berichterstattung über die Veranstaltung verfolgten, deutlich zu hören.

Geburtstagsverschiebung 

Der achte November. Am kommenden Montag wieder. Vermutlich ist der achte November kein Tag für die Geschichtsbücher. Anders als sein Nachfolger, der Neunte Elfte, der als Schicksaltag der Deutschen gilt, wie ich an verschiedenen Stellen in diesem Blog bereits beschrieben habe und wie mit Hilfe der Suchfunktion ganz leicht herauszufinden ist. Der achte November ist indes ein Tag von großer privater Bedeutung. Meine Mutter Lisette ist am achten November in Rotterdam geboren worden. Als Tochter eines Partikuliers, eines Rheinschiffers, den ich nie habe kennenlernen dürfen, weil er bei einem Brand auf seinem Schiff nach einem Bombenabwurf ums Leben kam. Der achte November, Lisettes Geburtstag, ist seit Zweitausendsieben, dem Jahr in dem sie gestorben ist, der Tag, an dem die Familie in ihrer, Lisettes, Lieblingskneipe in Köln-Porz zusammenkommt und das eine oder andere Kölsch trinkt auf die Frau, die Zeit ihres Lebens den Laden zusammengehalten hat, die Familie, ihre Schwestern und Brüder, Söhne und Schwiegertöchter, Enkelsöhne und Enkeltöchter. Und dann werden die Geschichten erzählt, teils zum x-ten Male, wie sie etwa Jahr für Jahr ab September bereits allen, die es hören oder nicht hören wollten, am Telefon mit diebisch-kindlicher Freude berichtet hatte, was sie schon für den Weihnachtsgabentisch irgendwo ergattert hatte. Keine der skurrilen Begebenheiten mit meiner Mutter fällt auf diese Weise dem Vergessen anheim. Das Kölsch lockert die Zunge und aktiviert das Gedächtnis. Am Montag wäre es wieder so weit gewesen und der ganze Clan hatte sich schon auf die Geschichten gefreut, die doch alle bestens kennen, und das gemeinsame Kölsch. Aber mein Lieblingsneffe hat die Tischreservierung abgesagt. Wegen der Corona-Pandemie. Wir haben beschlossen, den Geburtstag meiner Mutter einmalig und aus der Pandemienot heraus in den Januar zu verlegen oder in den Februar, jedenfalls in eine Zeit, in der zusammenzukommen keine Gefährdung älterer oder ohnehin mit einem Gesundheitsrisiko lebender Familienmitglieder mehr darstellt. Bei aller Lust aufs Geschichtenerzählen und Kölschtrinken, soviel Vorsicht muß sein – und Rücksicht. Und: Lisette wäre, bei aller Unvernunft, die sie ausgezeichnet hatte, gewiß auch für die einmalige Geburtstagsverschiebung zu haben gewesen.