“Das große Sieb der Pandemie”

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Letztes Wochenende las ich in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit einer Intensivärztin, die berichtete, wie sehr sich die Zusammensetzung der Patienten auf ihrer Station verändert habe seit letztem Jahr. Ein “Potpourri schwieriger Charaktere” sei das mittlerweile. Schwierige Menschen, die Schwierigkeiten machen. Die sich dauernd beschweren, dauernd Sonderwünsche haben, dauernd gekränkt sind, sich dauernd aufregen müssen. Eine ganz heterogene Gruppe, Lebensalter, sozialer Status, Geschlecht, Herkunft, aber einander ähnlich darin, dass sie es nicht leicht mit sich und anderen haben. Diese schwierigen Charaktere schlagen jetzt in den Intensivstationen auf, selbstverschuldet und in immer konzentrierterer Form, und bringen dort die Geduld und Leidensfähigkeit der ohnehin schon überlasteten Belegschaft ans Limit und darüber hinaus.

Die Geimpften gehen ins Konzert. Die Ungeimpften landen auf der Intensivstation. Wie ein Sieb trennt und filtert die Pandemie die Gesellschaft in eine Mehrheit, die mehr oder weniger glatt durchs Raster rieselt, und eine Minderheit, die hängen bleibt. Eine Entmischung findet da statt. Was sich da sammelt und abtrennt, sind die Schwierigen, die Stressmacher und Streitsucher, die irgendwie und irgendwann mal einen mitbekommen haben in ihrem Leben, wofür sie ja nichts können. Die den Nachrichten und den Ärzten und denen da oben und überhaupt so leicht nichts und niemandem mehr trauen. Schwierig waren sie im Zweifel schon immer, aber, um im Bild zu bleiben, als Teil eines einigermaßen homogenen Korngrößenspektrums. Dann kam das große Sieb der Pandemie.

So, here we are. Was sich da jetzt getrennt gegenübersteht, sind nicht Interessen, Präferenzen, nicht mal Ideologien. Nichts, was man politisch verhandeln könnte. Ungeimpft bleiben wollen (im Unterschied dazu, sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen zu können) ist ja nicht deshalb ein Problem, weil es sich um einen abweichenden Lebensentwurf handelt, sondern weil es andere in Gefahr bringt. Andere Ungeimpfte, darunter durchaus unfreiwillig Ungeimpfte, aber mitnichten nur die. Und zwar ohne plausibel machen zu können und vielfach auch nur zu wollen, warum und wofür. Schwierige Gefühle sind keine Rechtfertigung, andere in Gefahr zu bringen. Erwachsene Leute, die aus freien Stücken eine Entscheidung treffen aus welchen Motiven und welcher Seelenlage heraus auch immer, haben für die Folgen einzustehen. Alles andere wäre Paternalismus.

Das Pandemie-Sieb hat zur Folge, dass sich die darin Ausgesiebten immer mehr wie eine bedrängte Minderheit fühlen mögen. Sie würden diskriminiert, klagen die Schwierigen vielleicht, aber das stimmt nicht. Sie werden nicht wegen ihres Schwierigseins diskriminiert, sondern für ihr eigenes, selbst zu verantwortendes Tun und Unterlassen haftbar gemacht. Ja, sie sind eine Minderheit, aber das heißt erst mal ja nur, dass sie sich überstimmen zu lassen haben, wenn sich eine Mehrheit dafür findet, die von ihr ausgehende Gefahr mit erforderlichen, geeigneten und angemessenen Eingriffen in ihre individuelle Freiheit abzuwehren. Wie man eine direkte oder indirekte Impfpflicht so gestaltet, dass sie effektiv ist, mögen andere beurteilen, aber einen prinzipiellen Einwand dagegen außer der Furcht davor, mit den Schwierigen noch mehr Schwierigkeiten zu bekommen, kann ich nicht erkennen. Wenn es ohne geht, dann um so besser. Aber nötigenfalls kann das Recht auf körperliche Unversehrtheit aufgrund verhältnismäßiger Gesetze beschränkt werden (Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG). Anders als übrigens Sophie Hungers Grundrecht auf Kunstfreiheit.

Max Steinbeis, Die Schwierigen. Die Geimpften gehen ins Konzert. Die Ungeimpften landen auf der Intensivstation., Verfassungsblog

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