“Mitte als bürgerlicher Sehnsuchtsort”

Die Mitte beschreibt in der politischen Realität natürlich nicht einen einzigen Punkt (z.B. Friedrich Merz), sondern eine Bandbreite von Positionen und Meinungen. Das Intervall verläuft von der CSU über CDU und FDP bis hin zu den Sozialdemokraten. Allerdings muss sich die SPD das in Richtung Kuba weisende Adjektiv links vor ihrer Mitte gefallen lassen. Mitte klingt bürgerlich-seriös: nach Abitur und abgeschlossenem Studium, Experte statt Demagoge, nach Bausparvertrag und passender Krawatte zum Anzug, nach FAZ oder Süddeutscher als Frühstückslektüre. Ein mittiger Politiker wägt stets unparteiisch Pro & Contra ab, bevor er sich für eine Sache entscheidet. Ein Politiker der Mitte erkennt Mehrheitsbeschlüsse an, auch wenn sie ihm selbst nicht behagen. Der mittige Bürger verbeugt sich vor dem Gesetz, akzeptiert die Entscheidungen der Judikative. Die Mitte ist sowas wie ein profaner Sehnsuchtsort für Besserverdiener und Facharbeiter, die weder an das christliche noch an das sozialistische Paradies glauben. Nicht zu vergessen der Herdentrieb: wenn alle zur Mitte aufbrechen, kann es nicht verkehrt sein, dass auch ich dorthin will. Die Mitte ist allerdings nicht statisch, sondern verschiebt sich laufend, dabei an die Wanderung von Kontinentalplatten erinnernd. Mancher, der sich früher mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Mitte wähnte, ein paar Jahre lang nicht aufgepasst hat, befindet sich plötzlich außerhalb und will deshalb das Mittelmeer schließen oder gleich ganz verbieten. Und – ganz wichtig – in der Mitte werden bekanntlich die Wahlen gewonnen. Kein Wunder, dass jeder zur Mitte strebt. Mittlerweile ebenfalls die früher anarchischen Grünen, die als jüngstes Mitglied des Mitte-Kartells noch unter strenger Beobachtung der Alte-Mitte-Hasen stehen, und selbst die reaktionäre AfD, nicht gerade als Freundin einvernehmlich-mittiger Kompromisse bekannt, begehrt Einlass in den elitären Mitte-Club. Mich würde es nicht wundern, wenn sich inzwischen auch Teile der Linken geografisch näher am bauchigen Mittelteil als dem schmalen Ende des Hufeisens verorten. Und frage mich, wenn sich plötzlich alle in der Mitte tummeln, welchen Sinn das o.g. Äquidistanzdogma überhaupt noch macht. Falls alle Mitte sind, müsste in der Konsequenz jeder mit jedem koalieren können – oder doch nicht?

Henning Hirsch, Vom Hufeisenrand zur Mitte?, in: Die Kolumnisten vom dreizehnten Februar Zweitausendundzwanzig

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