Republikanische Wachsamkeit

Die riskante Seite der Demokratie ist nur in den Griff zu bekommen, wenn man peinlich darauf achtet, dass auch missliebige Volksmeinungen im Rahmen der Verfassung geäußert werden können. Gerade dem Pack, wie es Sigmar Gabriel genannt hat, sind, noch so zähneknirschend, die Grundrechte von Meinungs- und Versammlungsfreiheit besonders souverän zu gewähren. Nur so kann man den Fremdenfeindlichen glaubhaft argumentativ entgegentreten. Und nur so beweisen, dass sie nicht “das Volk” sind. Die Volksherrschaft in Deutschland ist ja eine, die den Einfluss des Volkes auf vielerlei Weise herausgefiltert hat: durch Parlamente, Parteien und ein Rechtssystem ohne Schuldsprüche von Geschworenen, also ohne Volksjurys. So hat das stabilitätsversessene Land das Risiko, das Wackelige der Demokratie, das Unfassbare des Volkes lange vergessen. Die Demokratie hat aber eben eine offene Flanke, das ist ihr Preis – und die Garantie, dass sie demokratisch bleibt. Vielleicht wäre es besser, wenn die AfD oder eine ähnliche “Volks”-Partei endlich in den Bundestag käme. Klingt frivol? Nein, es böte die Chance eines offenen Schlagabtauschs. Demokratische Gegenwehr ist nicht: ignorieren oder verbieten. Sondern republikanische Wachsamkeit, Argumente, Gegendemonstrationen.

Johan Schloemann, Demokratie. Wer sind das Volk?, in: Süddeutsche Zeitung vom fünften Dezember Zweitausendfünfzehn

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