Tag: 9. Oktober 2012

Das Augenmaß der Einäugigen

Normal ist bei Menschen die Vielfalt, normal sind die Unterschiede, das jeweilige Anderssein. Jeder Mensch muß in seiner Individualität und Einzigartigkeit von der Gesellschaft akzeptiert werden  und die Möglichkeit haben, in vollem Umfang am Gemeinwesen teilzuhaben und teilzunehmen, unabhängig davon, wie normal oder unnormal, wie behindert oder nichtbehindert, wie angepaßt oder wie auffällig der Einzelne auch sein mag. Das ist das Leitbild der Inklusion. Inklusion bedeutet Einschluss, Beinhaltung, Dabeisein und ist mithin das Gegenteil vom Ausschluß, von separierenden, segregierenden, stigmatisierenden oder selektierenden und auseinanderdividierenden Verfahren. Eine inclusive Pädagogik geht vom Grundsatz der Wertschätzung von Vielfalt aus, von Unterschiedlichkeit, Individualität. Befürworter der Inklusion betrachten Heterogenität, Unterschiedlichkeit, Andersartigkeit als normale, reguläre Gegebenheit. Inklusion ist also mehr als nur pädagogische Methode, pädagogische Theorie. Inklusion ist ein gesellschaftliches Leitbild, das Menschen nicht aussondert, vor allem etwa, weil sie körperlich, mental oder geistig behindert sind, aber auch krank, alt oder fremd, einfach anders. Die WNK UWG hat offenbar von diesem Leitbild noch nicht viel gehört oder viel verstanden. Sie fordert in einem Positionspapier “Inklusion mit Augenmaß”. Augenmaß ist ein beliebtes Bild, wenn man auf einen Ermessensspielraum Wert legt, wenn man keine grundlegenden Veränderungen zulassen, wenn man sich vor der Radikalität von Entscheidungen schützen möchte. Das Augenmaß der WNK UWG suggeriert Umsichtigkeit, meint im Kern aber die Bewahrung des Bewährten und wendet sich gegen Veränderungen. In ihrer Mitteilung vom siebten Oktober schreibt sie: “Die WNK UWG unterstützt nachdrücklich alle Ansätze, die Situation behinderter Menschen zu verbessern und das Zusammenleben von behinderten und nicht behinderten Menschen soweit als möglich zu verzahnen.” Soweit als möglich? Die Teilhabe an Bildung und Erziehung darf nicht wegen einer Behinderung eingeschränkt werden.  Allen Menschen steht das gleiche volle Recht auf individuelle Entwicklung und soziale Teilhabe ungeachtet ihrer persönlichen Lebensumstände oder ihrer Unterstützungsbedürfnisse zu. An dieser Stelle gibt es kein Augenmaß, keinen Spielraum, kein kleinlich-realitätsbezogenes Geschacher. Allen heißt allen. Ohne jede Beschränkung. Die scheinheilige Formulierung “soweit als möglich” kann nur bedeuten, daß schlechte Praxis, unzureichende Realitäten, eine behindertenunfreundliche Wirklichkeit nicht radikal in Frage gestellt werden sollen. Zu verzahnen? Hier soll nichts verzahnt werden. Schon gar kein Zusammenleben. Behinderten stehen die gleichen Rechte zu. Mehr nicht und nicht weniger. Basta. Das ist nicht interpretierbar zugunsten einer schlechten Realität. Die aber will die WNK offenbar nicht ändern, denn im nächsten Satz schon heißt es: “Dies muss allerdings mit Augenmaß und Blick für die Realitäten erfolgen.” Hier haben wir sie: die übermächtige Realität. Die Wirklichkeit, an der Veränderungen nicht vorzunehmen sind, wenn wir den Inklusionsspezialisten der CDU-Abspaltungen WNK und UWG folgen wollen. Welchen Blick auf welche Realitäten sollen wir werfen? Einen auf die Realitäten eines behinderten Lebens? Auf die Barrieren im öffentlichen Raum? Auf mangelnde Förderung Behinderter? Auf die Realität der Anpassung an nichtbehindertes Leben, des Funktionieren-Müssens? Nein, nichts Genaues oder Erhellendes ist von der WNK zu lesen. Nur der Verweis auf die übermächtige Realität. Wo kann schnell etwas geändert werden? Wo muß auf Dauer etwas verbessert werden? Was gehört abgeschafft? Was angeschafft? Fragen über Fragen. “Seit März 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft und Brüssel, Berlin und Düsseldorf arbeiten mit viel Akribie, Theorie und Papier an der Ausarbeitung der Details, Verordnungen, Richtlinien und Pläne hierzu.” In der Tat. Die Konvention ist schon seit mehr als drei Jahren in Kraft. Und getan hat sich noch nicht sonderlich viel. Auch die WNK hat ja bislang noch kein Sterbenswörtchen zur Inklusion veröffentlicht. Geschweige denn, irgendeinen praktischen, handhabbaren Vorschlag entwickelt. In Europa, im Bund und im Land arbeiten die Theoretiker. So will die WNK verstanden sein. Und in der WNK die Praktiker, die Menschen mit dem Alltagsverstand. Ansonsten hätten sich die Urheber dieses Papiers nicht zu einer solchen perfiden Formulierung verstiegen. “Das Engagement der UN in diesem Bereich muss sicherlich anerkannt und begrüßt werden. Erfreulicherweise ist die UN zumindest in diesem Bereich in der Lage, etwas zu beschließen und auf den Weg zu bringen, was man in vielen anderen ihrer Handlungsfelder nicht gerade feststellen kann.” Wenn wir schon mal dabei sind, dann bitte auch ein Kübelchen übellauniger Kritik an diversen Handlungsfeldern der Vereinten Nationen. Die WNK als Weltenrichter hat ja wirklich immer alles im Blick zu haben. Selbstgefälligkeit ist keine Tugend. So wenig wie Hybris. “Es muss auch erwähnt werden, dass die Richtlinie in allen UN-Mitgliedsstaaten gilt. In diesen weisen die Lebensbedingungen behinderter Menschen derartige Unterschiede auf, wie man sie sich größer kaum vorstellen kann. Es darf also durchaus die Frage erlaubt sein, ob Deutschland und die Industrienationen hier aktuell einen immensen Nachholbedarf haben, oder ob nicht zunächst die Priorität der Umsetzung dieser Richtlinie darin liegen sollte, die Situation behinderter Menschen in Schwellen- oder Entwicklungsländern mit Hilfe der Industriestaaten zu verbessern, bzw. mit und mit zunächst an deren Niveau heranzuführen.” Aha. Weil es anderswo auf der Welt noch schlimmer steht mit der Diskriminierung von Behinderten, können wir hier ja einstweilen getrost die Hände in den Schoß legen. Wir warten dann auf den Tag, an dem dereinst in Indien, China oder Brasilien die Lage behinderter Menschen grundlegend verbessert worden ist. Grotesk. Gibt es in der hochentwickelten und reichen Bundesrepublik etwa keinen Nachholbedarf? Keine Diskriminierung? Keinen Ausschluß Behinderter vom nichtbehinderten Alltag? Ist hier alles barrierefrei? Wenn sich ansonsten brave Kommunalpolitiker ins spätkolonialistische Geplärre verirren, liest sich das wie bei Henning Rehse und Co.. “Weiter darf nicht verschwiegen werden, dass Inklusion sich nicht nur auf die Lebensabschnitte Bildung und Erziehung, sprich Kindergärten und Schulen erstreckt, sondern auf alle Lebensbereiche und Lebenssituationen aller Altersstufen. Die Umsetzung der Inklusion stellt somit ein äußerst komplexes Thema dar.” Ach ja. Und was folgt daraus? Was muß hier am Ort geändert werden? Über Bildung und Schule hinaus? Nichts, nicht einmal eine Andeutung der WNK-Autoren. Offenbar ist das Thema Inklusion zu komplex für die WNK. “Betrachtet man den Bereich der Schule gibt es hier völlig unterschiedliche Ansätze und Meinungen: Rot-grün in NRW und im Landschaftsverband Rheinland (LVR) noch angereichert durch die FDP beispielsweise strebt untermauert von hochwissenschaftlichen Gutachten (Klemm, Preuss-Lausitz) mittelfristig die Auflösung von 85% aller Förderschulplätze an. Unsere Förderschule (Pestalozzischule) in Wermelskirchen gäbe es dann nicht mehr – eine für die WNK UWG unvorstellbare Konzeption.” Besitzstandswahrung. Darum geht es der WNK. Die Methode: Billigster Populismus. Die Pestalozzischule darf nicht sterben. Die Landesregierung, die Freidemokraten, pädagogische Experten wollen Förderschulplätze streichen. Ja und? Damit ist überhaupt kein Urteil über die hiesige Pestalozzischule gesprochen. Ob und wieviele und welche Schulen dereinst werden schließen müssen, ist überhaupt nicht ausgemacht. Es werden jedenfalls nicht alle Sonderschulen sein können. Aber Hauptsache, man macht erst einmal Wind. Wie immer: Die WNK ist lediglich als Windmaschine brauchbar. “Befragt man die Eltern behinderter Kinder, hat der Großteil von ihnen größte Vorbehalte gegen die zwangsweise ‘Inkludierung’ ihrer Kinder. Sie möchten ihren Kindern gerade die bewährte Fürsorge in den speziellen Förderschulen zukommen lassen und sie nicht zu Versuchskaninchen ideologie- und theoriebefeuerter Konzepte und Politiker machen.” Hat die WNK nun die Eltern behinderter Kinder befragt? Hier in Wermelskirchen? Hat die WNK diesen Eltern ein geprüftes, strukturiertes Inklusionskonzept vorgestellt bei der Befragung? Hat sich die WNK mit pädagogischen Experten und Schulfachleuten verständigt? Natürlich nicht. Alles bloß heiße Luft. Viel Wind um Nichts. Die heiße Luft wird mit den gängigen Vokabeln befeuert. Da ist dann von der zwangsweisen Inkludierung die Rede, von der bewährten Fürsorge, von den Kindern als Versuchskaninchen oder von den ideologie- und theoriebefeuerten Konzepten und Politikern. Inklusion ist Zwang. Der Ausschluß behinderter Kinder wird zur bewährten Fürsorge. Die unschuldigen Kinder werden zu Versuchskaninchen. Und Schuld sind natürlich Konzepte und Politiker, die sich von durchdachten Theorien leiten lassen. Welch ein Glück, daß wir hier die Praktiker aus den Niederungen der Kommunalpolitik haben. Abenteuerlicher Populismus paart sich bei der WNK mit billiger Theoriefeindlichkeit und vergorener Ideologie von gestern. Mehr ist das Ganze nicht. Mal wieder die Linie der WNK. Laut plärren. Als Erster. Mehr nicht. “Für die WNK UWG haben das Wohl des Kindes und der Elternwille oberste Priorität!” Nicht nur für die EX-CDUler. Das sind Grundrechte. Die stehen so im Grundgesetz dieser Republik. Das Wohl des Kindes und der Elternwille sind keineswegs mit den Exclusivrechten der WNK ausgezeichnet. Populistisches Gebrabbel. “Auch der Aspekt der Finanzierung darf nicht vergessen werden: Nicht umsonst wartet man seit Jahren auf konkrete Pläne, Gesetze, Verordnungen, Richtlinien des Landes zur Inklusion – und dies aus gutem Grund. In der Landesverfassung NRW ist das Prinzip der Konnexität verankert. Es bedeutet einfach ausgedrückt, dass, wenn das Land den Kommunen Aufgaben vorschreibt, es die dafür notwendigen Finanzmittel zu Verfügung stellen muss; ein Grundsatz der seit Jahren bei vielen Themen nicht eingehalten wird und der Hauptgrund dafür ist, dass die meisten Kommunen, so auch Wermelskirchen pleite sind. Somit müssen Aktivitäten zur Inklusion auch unter dem Vorbehalt der Finanzierung durch die Gesetzgeber stehen. Alle vorgenannten Aspekte müssen nach Meinung der WNK UWG berücksichtigt werden, wenn in Gremien, Ausschüssen und Rat sich ernsthaft und mit Augenmaß mit dem Thema Inklusion beschäftigt wird.” Da ist es, das Hauptanliegen der WNK: der Finanzierungsvorbehalt. Die Stadt ist pleite und also gibt es keine Inklusion. Es soll alles bleiben, wie es ist. Das ganze Geschwurbel über UN und Berlin und Düsseldorf und Theoretiker und Elternwille und Ideologie und Komplexität hat nur einen Zweck: Wir wollen nichts ändern, die Welt ist schön, wie sie ist. Wir beginnen mit dem Nachdenken erst, wenn Bangladesh barrierefrei ist. “Für die Fraktion WNK UWG FREIE WÄHLER: Norbert Kellner,  Schulpolitischer Sprecher, Stefan Kind,  Sozialpolitischer Sprecher, Claudia Schadt,  Jugendpolitische Sprecherin.” Ein echtes Expertenpapier.