“Ein Gefühl der Ohnmacht und der Ungerechtigkeit”

17. Juni. Da war doch noch was. Ich erinnere mich dunkel, daß wir als Kinder in der Schule Geld mitbringen mußten und dafür eine Anstecknadel in Form des Brandenburger Tores vom Kuratorium Unteilbares Deutschland bekamen. Aufstand in der DDR. Seit 1954 alljährlicher Pflichttermin für die Politik. Früher Tag der deutschen Einheit, Feiertag, freier Tag. Heute kein Feiertag mehr. Ein normaler Arbeitstag. Irgendwie untergegangen in der öffentlichen Betrachtung. Nur im Deutschen Bundestag wird der Ereignisse des 17. Juni 1953 jährlich gedacht. Reden werden gehalten, an die man sich schon am achtzehnten Juni kaum mehr erinnern kann. Anders dieses Jahr. An den siebzehnten Juni erinnerte Gesine Schwan, Politikwissenschaftlerin und ehemalige Präsidentin der Europauniversität. Sie verband auf bemerkenswerte Weise den siebzehnten Juni 1953 mit aktuellen Problemen der Politik und der Demokratie. Auf so bemerkenswerte Weise, daß einige FDP-Abgeordnete während der Rede den Saal verließen. Hier die Rede in Auszügen:

Warum, zu welchem Zweck, wollen wir heute des 17. Juni gedenken? Ich meine, der Blick zurück in die Vergangenheit, gerade an Gedenktagen, kann uns helfen, aus der Vergangenheit zu lernen, um eine gute Zukunft zu gewinnen. Aus der Vergangenheit lernen heißt, sich auf die Suche nach historischen Erfahrungen zu begeben, die einer guten Zukunft entgegenstehen, ebenso wie nach solchen Potenzialen, die sie begünstigen. Aus der Vergangenheit lernen heißt verstehen, wie wir selbst und die anderen geworden sind, um uns besser mit ihnen über eine gelungene Zukunft zu verständigen. Aus der Vergangenheit lernen heißt Verlässlichkeit stiften für ein gegenseitiges Vertrauen, das wir für gedeihliches Handeln brauchen, heißt Gemeinsamkeit schaffen für eine Welt, die wir auch unseren Kindeskindern noch guten Gewissens überantworten können. Dabei können uns Gedenktage helfen. (…) Über die banale Willkür geballter Macht hinaus verbarrikadierte sich die kommunistische Herrschaft also in einem geschlossenen ideologischen System. Sie machte sich immun gegen Einwände und die Freiheit kritischen Denkens. Demokratische Freiheit, die auf freie Wahlen und freie Presse setzt, fordert dagegen solche kritische Infragestellung gerade mächtiger Institutionen, Gruppen oder Personen. Dies ist ein zentrales Element rechtsstaatlicher Gewaltenteilung, die von der lebendigen und kompetenten Kritik der Bürger lebt. (…) Heute leben wir im vereinigten Deutschland in einem demokratischen freiheitlichen Rechtsstaat. Freuen wir uns an unserer Demokratie? Und über die freien Wahlen? Und über die am 17. Juni ebenfalls unter Lebensrisiken geforderte freie Presse?  Würden die Deutschen heute in Scharen auf die Straße gehen, wenn diese Freiheiten, sagen wir einmal, vorübergehend ausgesetzt würden, um mit starker Hand, unbehelligt von streitenden Parteien, Wahlkämpfen und verwirrenden Medien, erst einmal die Krise zu überwinden und die Wirtschaft und die öffentlichen Haushalte wieder in Ordnung zu bringen?  Immerhin entstehen heftige Proteste, wenn im Internet die Freiheit eingeschränkt werden soll. Das Internet ist für viele insbesondere junge Menschen ein neuer Lebensraum.  Sollen hier nur der individuelle Bereich, das private Interesse geschützt werden? Freiheit also als individuelle Willkür, die das Ganze aus dem Blick verloren hat? Oder birgt der Reflex, sie zu schützen, auch ein umfassenderes politisches Potenzial? Macht Freiheit im Internet die traditionell demokratische Wahl- und Pressefreiheit überflüssig? Oder handelt es sich immer um dieselbe Freiheit nur in unterschiedlichen Facetten?  Zurück in eine Diktatur will heute kaum einer. Aber viele plagen heftige Zweifel an der Fähigkeit der politischen Demokratie, die drängenden Probleme zu lösen, etwa Regeln für die globale Wirtschaft zu etablieren, die die grundlegenden Bedürfnisse der Bürger nach Freiheit und Sicherheit zu schützen vermögen.  Beunruhigen muss überzeugte Demokraten die Gleichgültigkeit vieler gegenüber Wahlfreiheit und Wahlen, weil die Parteien sich im Handeln nach der Wahl angeblich doch nicht voneinander unterschieden und ihre Versprechen nicht einlösten.  Ein Gefühl der Ohnmacht und der Ungerechtigkeit hat sich in unserer Demokratie ausgebreitet. Umfragen zeigen, dass die Einstellung zur Demokratie stark von solchen Benachteiligungs- und Gerechtigkeitsgefühlen abhängt.  Und ist es denn noch als gerecht zu bezeichnen, wenn Milliardenbürgschaften, die wahrscheinlich notwendig waren, für die Rettung des Bankensystems ausgegeben werden und kurz danach Banken Milliardengewinne einstreichen, die von eben dieser Rettung ihrerseits profitiert und von denen viele sich zuvor an der Gefährdung des Systems beteiligt haben, zum Beispiel durch unverantwortliche Verbriefungen oder Wetten?  Muss die Distanz zu unserer Demokratie nicht wachsen, wenn sie angesichts von noch mehr Millionären nach, ja infolge der Krise nicht zur Kasse gebeten werden und umgekehrt trotz einer drastischen und beschämenden Kinderarmut – über zwei Millionen Kinder wachsen in unserem reichen wiedervereinigten Deutschland armutsgefährdet auf und haben kaum eine reelle Chance auf angemessene Bildung und auf die Freiheit, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen -, wenn angesichts dessen bei Familien und Hartz-IV-Empfängern, viele von ihnen alleinerziehende Mütter, gespart würde?  Wenn die kommunalen Haushalte, die auch durch die Bankenrettung ausgeblutet sind, ihren Aufgaben gerade gegenüber den Schwächeren in unserer Gesellschaft nicht mehr nachkommen können? Das wäre eine Normerhöhung besonderer Art, um an den 17. Juni 1953 zu erinnern. Steht uns im vereinigten Deutschland ein neuer 17. Juni bevor? Sicher nicht. Doch dass es unter der Oberfläche gärt, kann man nicht abstreiten. Vor allem die Gefahr ohnmächtiger Wut nimmt zu, die sich als politisch ungezielte Gewalt äußert, zum Beispiel gegen Schwächere, um sich irgendwo doch stark zu fühlen.  Wir registrieren einen Respektverlust gegenüber anderen Menschen. Die sich häufenden Angriffe auf Polizisten, die gerade an diesem Wochenende einen neuen und bestürzenden Höhepunkt erreicht haben, sind nur ein Zeichen dafür.  Oder die Menschen richten ihre Wut gegen sich selbst, werden angstvoll-depressiv. Depression ist heute vor Krebs- und Herzerkrankungen die am meisten verbreitete Volkskrankheit; daran sollten wir denken.  Normerhöhungen gab es nicht nur im Kommunismus. Sie sind auch Alltag im Kapitalismus und haben in großen Unternehmen wie France Télécom, Renault-Nissan und den chinesischen Zulieferern von Apple und Dell in der letzten Zeit zu erschütternden Selbstmorden geführt. (…) Offenbar ist also auch die Demokratie kein Allheilmittel gegen soziale Verwerfungen. Doch bedeutet dies, dass sich die Aufständischen vom 17. Juni geirrt haben? Waren ihre Forderungen naiv, zeigten sie in die falsche Richtung? Helfen freie Wahlen und eine freie Presse für die Lösung unserer Probleme gar nicht weiter? Sind unsere demokratischen Regierungen und Parlamente am Ende genauso hilflos wie das Politbüro der SED? Nein, definitiv nicht, weil Rechtsstaat, freie Wahlen und freie Medien die unabdingbare und auch aussichtsreiche Voraussetzung dafür bieten, unter den gegenwärtig für viele verwirrenden Bedingungen Abhilfe zu schaffen. Unsere Regierungen und Parlamente sind nicht hilflos wie die damalige Ostberliner Regierung, wenn sie uns als verantwortliche freie Bürger mehr als bisher einbeziehen und wenn wir umgekehrt als verantwortliche Bürger uns mehr als bisher für gemeinwohlverträgliche Lösungen engagieren. (…) Wir dürfen auf die das ganze System herausfordernde Krise nicht mit weniger, sondern wir müssen mit mehr Demokratie darauf antworten. Nur so können wir unsere Probleme nachhaltig, weil gemeinwohlorientiert lösen.  Unsere Verfassung bietet uns die politische Freiheit, unser Gemeinwesen mitzugestalten, nicht als Ware an, die wir einfach individuell für unsere privaten Zwecke konsumieren können, sondern als eine verantwortliche Aufgabe, die uns auch in die Pflicht nimmt, an der Stelle, an der wir jeweils stehen, für gute Lösungen zu sorgen.  Das gilt für jeden Einzelnen in unserem Land. Je mehr soziale, politische, ökonomische Macht wir haben, desto mehr. Wer ungeniert nur sein Einzelinteresse verfolgt und sich leichtsinnig auf Inseln der Macht und des Reichtums abschottet, gefährdet die Demokratie und seine eigene freiheitliche Zukunft. (…) Was folgt daraus? Was heißt heute „mehr Demokratie“? Unsere Politik steht vor neuen, größeren Herausforderungen als in den 50er-Jahren, weil Nationalstaaten angesichts der ökonomischen Globalisierung erheblich an Einfluss auf die sozialen Folgen des Wirtschaftens, zum Beispiel in Sachen Arbeitslosigkeit, soziale Absicherungen, Steuerpolitik etc., verloren haben und weil zentrale Aufgaben, zum Beispiel in Bezug auf Klima, Energiesicherung, Gesundheit, praktisch nur noch global angegangen werden können. Wir erleben dies gegenwärtig hautnah mit dem Ringen um internationale Finanzmarktregeln. In allen Nationalstaaten versuchen aber mächtige gesellschaftliche Gruppen und Institutionen, Regeln zu verhindern, die ihren Partikularinteressen widersprechen. Der Vorteil der freiheitlichen Demokratien liegt darin, dass man ihnen öffentlich auf die Spur kommen und ihnen deshalb begegnen kann. Denn demokratisch gewählte Parlamente und Regierungen gehen eben aus Gesellschaften mit durchaus unterschiedlichen Interessen hervor, die bei uns über die Parteien auf die Entscheidungen Einfluss nehmen. Das ist legitim. Interessensvertretung gehört zum System. Gefährlich für demokratische Politik, die ein verträgliches Maß an Gerechtigkeit als gleicher Freiheit wahren oder herstellen muss, sind ihre unterschiedlichen und auch grenzüberschreitenden Machtpotenziale und ihre Undurchsichtigkeit. Wenn sie die nationalen Politiken ebendiesen grenzüberschreitenden Partikularinteressen unterwerfen – dies ist gegenwärtig das zentrale gravierende Problem -, müssen aus der Zivilgesellschaft heraus ebenso grenzüberschreitende Lobbys diese Interessen transparent machen, die Öffentlichkeit mobilisieren und Lösungsvorschläge so propagieren, dass Regierungen und Parlamente ebenso wie die Parteien ihre Gemeinwohlaufgaben wieder wahrnehmen können. Das ist mühsam, hat aber global schon zu erheblichen Bewusstseinsveränderungen geführt, die demokratischer Politik, zum Beispiel in Sachen Umwelt, in einer Art „antagonistischer Kooperation“ Hilfe leisten können. So vermag sich demokratisch gewählte Politik durch eine konfliktreiche Zusammenarbeit mit der organisierten Zivilgesellschaft zu stärken. (…) Konflikt und Kooperation gehören in der Demokratie überall untrennbar zusammen. Dabei muss sich die demokratisch gewählte Politik allerdings zugleich mehr als in letzter Zeit erkennbar auf ihre Aufgabe besinnen, ihrerseits umfassendere und positive politische Ziele zu markieren und dafür auch, gegebenenfalls mit Risiko, zu kämpfen. Gerade in einer akut unübersichtlichen, schwierigen Lage braucht es einen erkennbaren langfristigen Kompass – zum Beispiel über Europa und dessen globale Rolle -, um Unterstützung und Vertrauen in der Gesellschaft zu gewinnen. Schließlich brauchen wir auch die Kooperation des Privatsektors, der Firmen und Unternehmen, um gegen mächtige Partikularinteressen gemeinwohlfördernde Regeln grenzüberschreitend durchzusetzen. Es gibt immer mehr Unternehmen, die dies erkennen und sich unter anderem um ihres guten öffentlichen Rufes willen freiwillig daran beteiligen. (…) Die neuen Erfahrungen zwingen uns deshalb, von machtvollen Interessenvertretern zu verlangen, dass sie sich vor öffentlicher Kritik nicht hinter einer geschlossenen Marktideologie verschanzen wie ehedem Marxisten-Leninisten hinter ihrer ebenso geschlossenen Herrschaftsideologie.  Der globale Wettbewerb darf nicht mehr als immunisierende Abwehrstrategie gegen Gerechtigkeitsforderungen oder zähmende Regeln dienen.  Hier ist eine erneute Hybris aufgekommen, die wir überwinden müssen. Auch die sachlich richtige Forderung, Regeln international bzw. global durchzusetzen, um Schlupflöcher zu stopfen, sollte nicht als fadenscheiniges Argument gegen mögliche regionale oder auch nationale Lösungen eingesetzt werden.  Damit demokratische Politik eben besser als kommunistische Politik Freiheit und Recht sichert, müssen wir an einem neuen Grundkonsens in der Gesellschaft über Grenzen der Unfreiheit, der Ungerechtigkeit und der Uneinigkeit arbeiten.  Anders als der Kommunismus setzt demokratische Politik keine neuen Menschen voraus, maßt sich auch nicht an, sie zu schaffen. Aber ohne Bürgertugenden, ohne ein Grundmaß an Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeitssinn und Gemeinwohlorientierung bei uns allen kann das für Freiheit und Demokratie notwendige Vertrauen nicht entstehen.  Das gilt besonders für diejenigen, die Macht haben: in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in den Medien, unter Ärzten und Rechtsanwälten. Demokratie gelingt nicht in einer Welt von „Teufeln“ oder von notorischen Tricksern.  „Einigkeit und Recht und Freiheit“ werden uns nicht vom Grundgesetz in den Schoß gelegt, sondern entstehen allererst durch gemeinsames politisches Handeln der Bürger. Nicht zufällig sind Menschen, die sich in der Demokratie engagieren, mit ihr auch zufriedener. Verständigung ist die Voraussetzung gemeinsamen politischen Handelns.  In unserer immer vielfältigeren Gesellschaft – diese ist eine unvermeidliche Folge der Globalisierung – kann gemeinsames Handeln allerdings nur gedeihen, wenn die Bürger sich um Verständigungsbereitschaft bemühen – zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen, die unter sich auch wieder sehr verschieden sind, zwischen Alten und Jungen, zwischen hier Geborenen und neuen Einwanderern. In diesem Bemühen führt der Begriff der Mehrheitsgesellschaft in die Irre, weil er Unterordnung von Minderheiten suggeriert, wo erst partnerschaftliche Verständigung gemeinsames Handeln ermöglicht. Jeder von uns ist selbst in unserem Land in irgendeiner Hinsicht in der Minderheit. Wir alle aber sind durch unser vorzügliches Grundgesetz gebunden.  Verständigung steht auch der Rechthaberei entgegen, die den Balken im eigenen Auge übersieht. Sie braucht die menschliche Reife, Ambivalenzen in schwierigen Lebensentscheidungen auszuhalten.  Opportunistisches Verhalten, das der Demokratie mit Sicherheit schadet, hat es in beiden deutschen Nachkriegssystemen gegeben, im Kommunismus aufgrund des politischen Regimes oft mit weiter reichenden bösen Folgen. Aber hier war auch der Druck auf die Menschen viel höher. In Wahrheitskommissionen können Wunden geheilt und notwenige moralische Werte wiederhergestellt werden. In Tribunalen gelingt das sicher nicht.  Was können wir aus dem 17. Juni 1953 lernen? Die Forderungen der Aufständischen nach Freiheit und Recht sind ganz und gar aktuell. Aber sie dürfen nicht zu leeren Floskeln verkommen.  Wir müssen aus Ihnen lebendige Antworten auf unsere neuen globalen Herausforderungen entwickeln, wenn wir Recht und Freiheit nicht unter der Hand verlieren wollen. Wenn wir es aber schaffen, uns darüber zu verständigen und gemeinsam politisch zu handeln, dann können uns Einigkeit und Recht und Freiheit gelingen, dann sind sie des Glückes Unterpfand, dann erweisen wir uns der Aufständischen des 17. Juni als würdig.  Wir verneigen uns vor den Toten und bezeugen ihrem Mut unseren Respekt und unseren andauernden Dank.

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