Schlagwort: Zuhören

Zuhören, ein subversiver Akt

“Zuhören ist Hören in Verbindung mit Denken und Konzentration”, sagte einmal Daniel Barenboim im Gespräch mit Evelyn Roll für die Süddeutsche Zeitung, “die meisten Menschen können das gar nicht mehr. Sie machen keinen Unterschied zwischen Hören und Zuhören.” Hören, das wäre einfach nur, die Geräusche oder Töne wahrzunehmen – Zuhören verlangt dagegen ein Sich-Einlassen auf das, was zu hören ist, was gespielt oder gesagt wird, und es verlangt, das Gehörte gedanklich mit nachzuvollziehen. Erst durch das Zuhören tritt das Eigene für einen Augenblick zurück und öffnet sich für ein neues Thema, einen neuen Gedanken, eine neue Welt. Das Zuhören impliziert die Bereitschaft, sich auf die Gedanken, die Interpretation, die Perspektive eines anderen einzulassen. Ohne umgehenden Widerspruch. Ohne die Anmaßung, es prinzipiell besser zu wissen. In Zeiten, in denen eine fragmentierte Öffentlichkeit vor allem das möglichst laute, möglichst enthemmte Propagieren der eigenen Überzeugungen fördert, in denen alle sich selbst ernst nehmen, aber nicht mehr den anderen, ist das Zuhören schon fast ein subversiver Akt. Und eben nicht allein, sondern mit anderen zusammen sich auf etwas zu konzentrieren, auch das ist selten geworden, seit die Bedingungen und Möglichkeiten des gemeinsamen Erlebens einer gemeinsamen Welt ausgehöhlt wurden.

Carolin Emcke, Kolumne: Zuhören, in: Süddeutsche Zeitung vom dreißigsten Juli Zweitausendundsechzehn