Schlagwort: Süddeutsche Zeitung

Demokratiegefährder

Als Demokratiegefährder sieht Hans Herbert von Arnim immer nur den Parteifunktionär, aber nicht dessen Pendants, wie etwa den vaterlandslosen, moralfreien Manager, den Geiz-ist-geil-Charakter und den Alles-sofort-Konsumbürger, der statt sich politisch zu informieren, geschweige denn sich in einer Partei, einem Verein oder der Kirche zu engagieren, lieber vor dem Computer hockt und zwischen seinen Bestellungen bei Amazon und Zalando mit argumentationsschwachen, aber meinungsstarken Beleidigungen in den sozialen Medien herumkoffert. Gerade angesichts dieser vielen anderen Probleme, mit denen sich Politiker, Gerichte, Medien, die Polizei und der Staat täglich herumschlagen müssen, ist es fast ein Wunder, wie gut alles – noch? – funktioniert unter dieser schlimmen Parteienherrschaft.

Es ist trotzdem gut, dass Hans Herbert von Arnim dieses Buch geschrieben hat. Bücher wie dieses befeuern die notwendige Dauer-Diskussion über die Fehler und Schwächen unserer Demokratie und können so dazu beitragen, dass sie besser oder zumindest nicht schlechter wird.

Christian Nürnberger, Parteienkritik. Deren Deutschland, in: Süddeutsache Zeitung vom zwanzigsten März Zweitausensiebzehn. Eine Rezension von Hans Herbert von Arnim: Die Hebel der Macht und wer sie bedient – Parteienherrschaft statt Volkssouveränität. Heyne-Verlag München Zweitausenundsiebzehn, vierhundertachtundvierzig Seiten,

Die Ironie der Missionarsstellung: Von der A-tergo-Zeit zum Face-to-Face-Liebesspiel

Das Wort Missionarsstellung enthält eine unberechtigte Ironie. Die christlichen Prediger haben fremden Völkern nicht nur das Evangelium gebracht, sondern auch die Idee, dass der Begegnungs-Charakter von Sexualität ernst genommen werden muss. Wie in Paris, also auch im Busch. Kurzum, der Übergang von der A-tergo-Zeit zum personalisierten Face-to-face-Liebesspiel darf unter keinen Umständen ins Lächerliche gezogen werden.

Der Philosoph Peter Sloterdijk im Interview mit S. Michaelsen, D. Pfeifer und V. SchröderGuter Sex braucht Freiheit. Die erotische Revolution sollte das gesellschaftliche Bewusstsein erweitern. Heute herrschen zwischen Frauen und Männern aber oft Misstrauen und Unsicherheit, in: Süddeutsche Zeitung vom siebzehnten September Zweitausendundsechzehn

Zwischen Kölsch und Mölmsch und Flönz und Poschweck

Kennst du das Land, wo man unter anderem ostbergisch, ripuarisch, moselfränkisch, klever- und münsterländisch, siegerländisch-wittgensteinisch, mittelhessisch sowie kölsch und mölmsch spricht? Wo der höchste Berg 843,2 Meter misst und der niedrigste Punkt 9,2 Meter über Normalhöhennull liegt? Wo sie Sachen essen, die Poschweck, Halver Hahn, Himmel un Ääd, Pillekauken, Struwen oder gar Flönz heißen, welch Letztere in einer ihrer eigenen Sprachen “jet ähnlishet” ist “wie de Blotwoosch”? (…) Das fragliche Land ist das deutsche Bundesland Nordrhein-Westfalen und feiert (…) seinen 70. Geburtstag. Alles Jode alsu zum Jebootsdag!, um es op Kölsch zu sagen.

Aus: Glosse. Streiflicht, in: Süddeutsche Zeitung vom dreiundzwanzigsten August Zweitausendundsechzehn

Sprache, Ton und Umgang

Es geht in dieser grenzenlosen Welt um Kommunikation, um Sprache, Ton und Umgang. Das ist eine zutiefst politische Angelegenheit, weil Kommunikation über den Umgang in einer Gesellschaft entscheidet, weil sie das Klima zwischen Staaten bestimmt, weil sie über die Wahrnehmung, pathetisch gesprochen: über die Wahrheit entscheidet – oder das, was viele Menschen als richtig und wahr empfinden. (…) Enthemmte Kommunikation radikalisiert, sie befördert den Hass, sie reißt Barrieren von Anstand und Würde ein. Weil die Hemmschwelle sinkt, steigt das Bedürfnis nach immer radikalerem Wahnsinn. Nicht zufällig haben gerade jene Populisten Konjunktur, die es nicht so genau mit der Wahrheit halten, die ihre Macht auf der Lüge aufbauen, die möglichst schrill, apokalyptisch und undifferenziert daherreden. (…) Der Terror nutzt die Errungenschaften einer freien Gesellschaft und wendet die Werkzeuge der grenzenlosen Kommunikation gegen ihre Erfinder. Das ist eine bittere Lektion gerade für jene Medien, die wie eine gewaltige Umwälzpumpe für Kommunikation funktionieren und sich den Beinamen sozial geben. Weil es aber nicht sozial sein kann, wenn man als Plattform für Verbrechen und Hass dient, müssen Facebook & Co, müssen all die Chat-Foren und Kommunikationsdienste den Missbrauch ernst nehmen. Datenschutzbestimmungen oder die Rechtslage, gerade bei amerikanischen Firmen mit ihrem speziell ausgeprägten Verständnis von Meinungsfreiheit, sind von höchstem Wert. Ohne Wert ist aber das Argument, man trage als Plattform keine Verantwortung für Inhalte. Verantwortung lässt sich nicht abgeben.

Stefan Kornelius, Terror und Medien. Am Scharnier, in der Süddeutschen Zeitung vom achten August Zweitausendundsechzehn

Verbale Inkontinenz

Nicht alles muss getwittert, auf Facebook geteilt oder einem vermeintlich Vertrauten gesteckt werden. Diese verbale Inkontinenz, das ständige Über-alles-reden-Müssen, die Distanzlosigkeit und die Unfähigkeit zur Diskretion, die sich im Privaten, im Geschäftsleben und in der Politik zunehmend breitmacht, bereitet mir schon lange Unbehagen

Anja Seipp aus Köln in einem Leserbrief in der Süddeutschen Zeitung vom fünfzehnten August Zweitausendundsechzehn

Wahlschlamassel

Michalis Pantelouris hat sein Leben lang SPD gewählt und erwägt jetzt, erstmalig für Angela Merkel zu stimmen, weil er ihre Flüchtlingspolitik für richtig hält. Ein Dilemma. Wohl wahr.

Wir sind aufgefordert worden, uns nicht von den Bildern trauriger Kinderaugen hinter Grenzzäunen erpressen zu lassen. Alexander Gauland von der AfD hat das gesagt, der inzwischen wenig mehr ist als ein Provokateur, aber ich glaube schon, dass er damit Ängste benannt hat, die mehrheitsfähig sind. Deutschland hat Angst, überrannt zu werden von den Eltern dieser Kinder. Nur: Ich kann das nicht. Ich habe zwei Kinder, und ich glaube, eine reiche Gesellschaft, die sich vom Leid von Kindern nicht zum Handeln bringen lässt, ist eine zynische Gemeinschaft von Leuten, die ihre Ängste wichtiger nehmen als ihre Überzeugungen. Deshalb war ich beeindruckt von der Bundeskanzlerin, die europäische Menschlichkeit auch noch verteidigte, als es unpopulär wurde. Als es ihr politisch geschadet hat. Ich habe zum ersten Mal in ihrer sich längst ewig anfühlenden Amtszeit so etwas wie Stolz auf meine Kanzlerin empfunden, und was schlimm ist: Ich spüre so etwas wie pragmatischen und moralischen Druck, sie zu wählen. Und das wäre furchtbar für mich, denn ich bin ein linker Sozialdemokrat. Merkel zu wählen hieße, die CDU zu wählen, was für mich völlig undenkbar ist, weil ich wirklich alles falsch finde, was diese Partei und erst recht die CSU vertritt, von der Euro-Politik bis zur Herdprämie, von TTIP bis zur Vorratsdatenspeicherung. Ich will weder Schäuble wählen noch »Es wird in Europa wieder Deutsch gesprochen«-Kauder noch sonst irgendwen dort. Es ist schlimm genug für mich, dass meine Partei, die Sozialdemokraten, diesen ganzen Unsinn in der Großen Koalition mitträgt, sehr schlimm sogar. Aber eine Partei wählen zu müssen, bei der man alles ablehnt? Wie soll das gehen? Kann das gehen? Muss das sein? Meine Gedanken sind folgende: Für mich ist Merkel die Einzige, die Europas Flüchtlingspolitik so beeinflussen kann, dass Europa seine Seele nicht komplett verliert und alles verrät, wofür dieses große Friedensprojekt in den vergangenen siebzig Jahren gestanden hat. Setzen sich die anderen durch, sterben und leiden noch mehr Menschen. So einfach. Dabei finde ich nicht alles gut, was Merkel in der Flüchtlingspolitik macht, und ich bin auch nicht naiv. Mir ist völlig bewusst, dass die Aufnahme und Integration der vielen aus Kriegsgebieten flüchtenden Menschen eine schwere Aufgabe wird. Aber mir ist »schwer« immer noch lieber als »menschenverachtend«. Ich glaube, wenn irgendjemand anderer als Angela Merkel im Herbst 2017 Bundeskanzler werden sollte, wird die furchtbare Situation an den europäischen Außengrenzen und in den Lagern jenseits Zentraleuropas nur noch schlimmer. Allerdings halte ich es für unwahrscheinlich, dass jemand anderer Kanzler wird. Wer denn? Sigmar Gabriel? Eben. Ich glaube aber auch, dass ein schlechtes Ergebnis für Merkel bedeuten würde, dass ihre parteiinternen Kritiker – also praktisch die gesamte CDU – das als »Denkzettel« für ihre Flüchtlingspolitik interpretieren werden und ihr Stand noch viel schwieriger wird, als er heute schon ist, angesichts der Angst der Konservativen vor dem rechten Rand. Sie könnte meine Stimme brauchen. Aber es wäre eine Stimme für die CDU. Es gibt natürlich Parteien, deren Bekenntnisse in der Flüchtlingspolitik viel besser zu mir passen. Natürlich die SPD, bei deren Abgeordneten ich mir im Moment selten ganz sicher bin, was sie eigentlich wollen, aber besser und menschlicher als die CDU können sie Flüchtlingspolitik selbst, wenn man sie nachts weckt und mit verbundenen Augen kopfüber an ein Kettenkarussell hängt. Nur nützt mir das nichts, weil ich im Leben nicht glaube, dass die SPD den nächsten Regierungschef stellt. Bei den Grünen ist es das Gleiche. Am Ende muss sich Merkel an- gesichts eines schlechten Ergebnisses ihren Kritikern beugen und Dinge tun wie »die europäischen Außengrenzen sichern« – gegen Schlauchboote voller nasser, unterkühlter Familien.  Alles, weil ich Wolfgang Bosbach nicht wählen will. Oder Erika Steinbach. Oder gar diese komplette CSU- Riege, von Dobrindt bis Scheuer. Aber die Frage ist doch, wenn man es nur ein bisschen zuspitzt: Wenn ich es ernst meine damit, dass ich glaube, es würden Menschenleben gerettet, Schicksale zum Besseren gewendet werden und in Europa ein Rest Humanität gegenüber Menschen in größter Not gewahrt, wenn Merkels Flüchtlingspolitik mehr Unterstützung erfährt – muss ich dann nicht die CDU wählen? Müssen dann nicht viel mehr Leute wie ich allein wegen Merkel diese Partei wählen, deren Personal und Positionen wir für reaktionär und dumm halten? Und wenn es mir so wichtig ist: Warum fällt es mir dann trotzdem so verdammt schwer, auch nur darüber nachzudenken?  Natürlich ist die politische Überzeugung Teil der Identität, und die verrät man nicht leicht. Auf der anderen Seite sind wir alle erwachsen und wissen, dass in der real existierenden Politik niemand immer recht hat und regelmäßig keiner völlig recht. Insofern kann es ja auch nicht so ein Drama sein, einmal taktisch wegen eines Sachthemas die Falschen zu wählen. Aber es ist eben doch ein Drama. Allein der Gedanke tut sauweh. Ich kann ja auch nicht dazuschreiben, »Freu dich nicht über meine Stimme, Schäuble, ich habe euch nur wegen der Flüchtlingspolitik gewählt!« Das wäre wie in dem Witz, wo Ostfriesen Nutten ärgern, indem sie ihnen auf dem Straßenstrich hundert Euro in die Hand drücken und dann ganz schnell abhauen. Funktioniert einfach nicht. Die freuen sich trotzdem. Und wenn wir alle Pech haben, singt Volker Kauder wieder Tage wie diese. Feixend. Ein Albtraum. Sollte ich dafür verantwortlich sein? Heimlich bete ich, dass sich das Problem für mich lösen wird und Europas Regierungschefs rechtzeitig einsehen, wie die Geschichte über sie richten wird, wenn sie weiterhin nichts unternehmen. Sonst muss ich dahin gehen, wo es mir weh tut. Sehr weh.

Michalis Pantelouris, Erst links, dann rechts, in: Süddeutsche Zeitung, Magazin, Heft Neunundzwanzig aus Zweitausendsechzehn.

Sich-selbst-erfüllende Ohnmacht

(…) Man wagt kaum noch, den Fernseher einzuschalten oder Twitter zu benutzen. Alles wirkt zu schrill, zu irrational, zu wahnwitzig. Vor allem zu schnell. Dauernd drängt es einen, den Verlauf der Geschichte entschleunigen zu wollen. Dauernd möchte man die Gegenwart unterbrechen und zurückkehren an jenen Punkt in der Vergangenheit, an dem man noch meinte, etwas verstanden zu haben. Oder an dem es politisch noch nicht ins Irreale abgedriftet war. Aber wann war das? Wann waren sich denn Kolumnistinnen wie ich sicher, dass es zu einem Brexit kommen könnte? Am Tag des Brexit? Wann ahnte ich denn, dass Erdoğan endlose Listen für die jetzige Hexenjagd anfertigen lassen würde? Am Tag als Zigtausende Richter, Lehrer, Akademiker suspendiert und entlassen wurden? Wann verlor der öffentliche Diskurs in den USA jede Scham und jeden Bezug zur Wirklichkeit? An dem Tag, an dem die Delegierten auf dem Parteitag der Republikaner in Cleveland im Chor forderten, Hillary Clinton ins Gefängnis zu werfen? Allein, dass das Niveau zwischenmenschlicher Brutalität nicht mehr nur die Zuspitzung eines Mediums ist, sondern Tiefpunkt des Niveaus der Wirklichkeit – das ist gewiss. Dabei verwirrt die Gegenwart nicht dadurch, dass die politischen Akteure ihre Absichten oder Taten zu verbergen suchen, sondern im Gegenteil dadurch, dass sie noch die menschenverachtendste Maßnahme oder Vision ganz offen darbieten. Das ist eine ganz eigene Form der Demagogie: eine, die sich nicht verstellen will, sondern mit selbstbewusster Boshaftigkeit phrasen- und bildmächtig für sich wirbt. Das macht das passive Zuschauen in Echtzeit so verstörend. Es lässt sich ja nicht behaupten, die Wirklichkeit würde vor einem verborgen. Nicht einmal Gewalt wird verheimlicht. Die malträtierten Körper, die blutigen Gesichter der Verhafteten in der Türkei zu sehen, die im Fernsehen vorgeführt werden als sei das eine zivilisatorische Leistung, Menschen schlagen und verletzen zu können – das ist gespenstisch. Noch gespenstischer sind eigentlich nur die verhaltenen Phrasen europäischer Politikerinnen und Politiker, die sich anscheinend nicht verhalten wollen zu dem Geschehen und so tun, als könnten sie sich nicht dazu verhalten. Eine Art sich-selbst-erfüllende Ohnmacht. (…)

Carolin EmckeKolumne. Unwirklich, in: Süddeutsche Zeitung vom zweiundzwanzigsten Juli Zweitausendundsechzehn