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Schlamperei

Was ist so schlimm an Schlamperei? Lehrt nicht die Lebenserfahrung, dass Schlamper die besseren Menschen sind? Wohlverstandene Schlamperei bringt eine heitere, lässige Note ins Leben, sie ist ein Zeichen geistiger Freiheit. Bereits in der Schule war man gut beraten, sich neben Schlamper zu setzen, weil diese nette Leute waren und keinen Anstoß daran nahmen, dass man ungekämmt und mit verschiedenen Socken in den Unterricht gekommen war. Wer einen Freund suchte, fand ihn am Schlamperkasten in der Turnhallen-Umkleide, wo der künftige Kumpel seinen vergessenen Turnbeutel suchte, in dem ein einzelner Schuh und ein halbes Dutzend verschimmelter Pausenbrote steckten. Mit solchen Turnbeutelvergessern konnte man herrliche Abende in unaufgeräumten Zimmern verbringen, gern auch in Gesellschaft von Mädchen, die es ebenfalls nicht so genau nahmen. Wie lästig war hingegen die Präsenz moralinsaurer Pedanten, die ihre Stifte und Bücher bündig und im rechten Winkel ausrichteten und die einen ständig zur Ordnung riefen. Am liebsten hätte man ihnen eins mit dem Lineal übergebraten, hätte man nur die leiseste Ahnung gehabt, wo es herumlag.

Wolfgang Görl, Null Acht Neun. Ein Hoch auf die Schlamperei, in: Süddeutsche Zeitung, München und Region, vom zwanzigsten Februar Zweitausendundsechzehn