Schlagwort: Grüne

Nachlese

Die Nachlese, so kann man nachlesen, ist eine nachträgliche, auswählende, bewertende Betrachtung. Also, dann lesen wir mal die Ergebnisse der letzten Landtagswahl hier in Wermelskirchen nach. Wahlverlierer, wie im ganzen Land, ist auch hier die CDU. Nur noch 4.339 Wähler entschieden sich für die einst große bürgerliche Partei, das sind 26,5 Prozent aller abgegebenen gültigen Stimmen. Das klingt schon schlecht genug für eine Partei, die vor zwei Jahren immerhin noch 38,9 Prozent der Wählerstimmen einheimsen konnte. 2010 waren das immerhin noch 6612 Wähler im traditionell schwarzen Wermelskirchen. Die CDU hat also in Wermelskirchen sage und schreibe 2273 Wähler verloren. Das ist ein Verlust von 34,4 Prozent! Schlimmer aber ist, daß gemessen an der Zahl der Wahlberechtigten der Anteil der CDU-Wähler lediglich noch 15,75 Prozent beträgt. Auch die CDU steckt in der akuten Gefahr, ihren Charakter als Volkspartei zu verlieren. Für die SPD entschieden sich vor einer Woche 5203 Wermelskirchener, 31,7 Prozent. Zwar liegen die Sozialdemokraten damit erstmals vor der CDU. Vor zwei Jahren votierten 4532 Bürger für die SPD, was 26,6 Prozent ausmachte. Die SPD hat also 671 Stimmen dazugewonnen. Ein Zuwachs von knapp fünfzehn Prozent ihres letzten Ergebnisses. Dennoch: Gemessen an allen Wahlberechtigten schrumpft die sozialdemokratische Erfolgszahl auf einen Anteil von knapp 19 Prozent. Beide großen Parteien repräsentieren zusammen also etwa ein Drittel (!) der wahlberechtigten Menschen in unserer Stadt. Betrug die Wahlbeteiligung vor zwei Jahren noch 62 Prozent, waren es am vergangenen Sonntag nur noch 60,6 Prozent. Die Entfernung zwischen Parteien und Bürgern nimmt also weiter zu, das Interesse der Menschen an Politikern, Politik und Parteien nimmt ab. Jedenfalls führt es nicht zur Teilnahme am demokratischen Prozess, wie er derzeit gestaltet ist. Die Grünen konnten 1657 Zweitstimmen verbuchen, gegenüber 2022 Kreuzchen vor zwei Jahren. Das sind 10,1 Prozent gegenüber 11,9 Prozent in 2010. Die Grünen haben also binnen zwei Jahren 18 Prozent ihrer Wähler verloren. Und auch hier: Sie vertreten gerade noch sechs Prozent aller wahlberechtigten Bürger. SPD und Grüne werden die Landesregierung stellen, weil sie im ganzen Land die Mehrheit der abgegebenen Stimmen errungen haben. Die Mehrheit der Bürger haben sie indes nicht erreicht und überzeugt. Neben der SPD zählt die FDP um Christian Lindner zu den Wahlgewinnern im grünen Wermelskirchen. 2822 Wermelskirchener ließen sich vom liberalen Shootingstar überzeugen, FDP zu wählen. Das sind  962 Stimmen mehr als 2010, als sich 1860 Wähler für die FDP entschieden. Der Lindnersche Zugewinn beträgt also knapp 52 Prozent oder eine Steigerung des blau-gelben Anteils von 10,9 auf 17,2 Prozent. Mit 10,25 Prozent aller Wahlberechtigten steht die FDP durchaus in einer Reihe mit den beiden einstigen Volksparteien, SPD und CDU. Gleichwohl: SPD, CDU, Grüne und FDP repräsentieren gemeinsam nur  etwa die Hälfte (!) aller wahlberechtigten Bürger der Stadt, nämlich 51 Prozent. Für die Linke votierten letzten Sonntag nur noch 337 Stimmberechtigte, das sind etwa zwei Prozent. Zwei Jahre zuvor waren es noch 848 Wähler oder fünf Prozent. Die Linke hat also 511 Stimmen verloren, also 60, 3 Prozent ihrer Wähler nicht mehr an sich binden können. Die Linken sprechen nur noch für 1,22 Prozent aller hiesigen Wahlberechtigten. Keine Volkspartei, keine Protestpartei mehr, eine unbedeutende Partei unter den “Sonstigen”. Und schließlich die Piraten: 1207 Stimmen gegenüber 224 Stimmen zwei Jahre zuvor. Ein Zugewinn von 983 Kreuzchen, mehr also, als die FDP an Zugewinn hatte. Der eigentliche Wahlgewinner sind mithin die Augenklappenträger mit den Enterhaken, konnten sie ihren Anteil doch um knapp 439 Prozent steigern. Und jetzt noch das übliche Wasser in den guten Wein: Die Piraten vertreten auch nur 4,4 Prozent aller Bürger in der Stadt. Zusammen also vertreten diese sechs Parteien nur etwa zwei Drittel der Wermelskirchener. Wenig genug für ganze sechs Parteien. Das Landtagswahlergebnis bietet allen Parteien genügend Stoff für Demut und Nachdenklichkeit. Wenn sich 39,4 Prozent aller Wahlberechtigten von der Urne fernhalten, sollte dies eine Menetekel sein für alle Parteien, für alle Politiker am Ort, über die Gestaltung ihrer Politik, über die Ansprache an die Bürger gehörig nachzudenken.

Nachlese

Vor drei Jahren hatte die CDU in Schleswig-Holstein etwa fünfhundertfünftausend Zweitstimmen, gestern nur noch vierhundertachttausend. Wahlsieger? Die FDP wählten 2009 knapp zweihundertvierzigtausend Menschen im nördlichsten Bundesland. Gestern entschieden sich einhundertneuntausend Wahlbürger für Wolfgang Kubicki. Wahlsieger? Sehr viel weniger drastisch die Differenz zwischen 2009 und 2012 bei den Grünen: Sie verloren lediglich fünfundzwanzigtausend Wähler. Auch die SPD konnte ihre Wählerschaft nicht komplett mobilisieren: Viertausend Stimmen beträgt die Differenz zwischen den letzten und den aktuellen Landtagswahlen an den Küsten. Wahlverlierer? Der Südschleswigsche Wählerverband verlor etwa achttausend Stimmen und erreichte gestern etwas mehr als einundsechzigtausend Zweitstimmen. Die Linke hingegen konnte gestern nur noch knapp dreißigtausend Menschen begeistern, während vor drei Jahren noch mehr als fünfundneunzigtausend Stimmen auf die Linken entfielen. Wahlverlierer. Eindeutig und auch zugestanden von den Verantwortlichen der Partei. Die Piraten sind die Gewinner der Landtagswahl. Vor drei Jahren entschieden sich noch knapp neununzwanzigtausend Wähler für die orange Partei, gestern waren es immerhin knapp einhundertneuntausend. Wahlsieger. Eindeutig. Die absoluten Zahlen des amtlichen Endergebnisses machen so bestechend klar, was ansonsten hinter Prozentzahlen, Anteilsberechnungen und semantischen Kunststückchen von Journalisten und Politikern verschwinden soll: Schwarz-Gelb und Rot haben die Wahl verloren, haben ihre Wähler verloren. CDU und FDP erhielten vom Wähler die gelbe, die Linke gar die rote Karte. Piraten, Grüne, SPD und der SSW sind die Wahlsieger. Weil sie, wie die Piraten hinzugewonnen haben, weil sie, wie die anderen Parteien, ihre Verluste in absoluten Stimmen in engeren Grenzen halten konnten. Der Rest ist rhetorische Gesundbeterei, Logorrhoe, also Sprechdurchfall.

Wahlsieger

Sie haben wieder Hochkonjunktur, die Wahlrabulistiker. Wir haben gewonnen, die anderen haben verloren. Unisono klingt es aus allen Ecken des Landes. Unabhängig von den konkreten Zahlen, unabhängig davon, was die Wähler den Parteien und Politikern wirklich aufgegeben haben. Die CDU ist aus dem Ministerpräsidentensessel gewählt worden, in den sie nur mit einer verfassungswidrigen Interpretation des letzten Wahlergebnisses gekommen war. Aber: Sie hat die Wahl natürlich gewonnen, weil sie vermutlich ein paar Stimmen mehr als die SPD erhalten hat. Fast ehrlich die FDP. Sie hat schon gewonnen, weil sie überhaupt wieder in den Landtag darf. Macht man hingegen, was man traditionellerweise macht an Wahlabenden, nämlich das aktuelle am letzten Ergebnis zu messen, dann hat die CDU die Wahl verloren, nicht nur den Ministerpräsidentensessel. Sie wird vermutlich auch nicht in die Landesregierung zurückkehren können. Wenn das ein Wahlsieg ist, dann ist das Land Schleswig-Holstein nicht nur flach, sondern die Erde eine Scheibe. Die FDP hat die Hälfte ihrer Wähler verloren. Aber die Wahl hat sie, natürlich, gewonnen. Sie darf nicht mehr in der Landesregierung mitspielen. Aber sie hat die Wahl gewonnen. Die Linke hat dagegen die Wahl verloren und macht daraus auch keinen Hehl. Wohltuend. Wirklich gewonnen haben dagegen die Piraten. Sie ziehen in den Landtag ein und nehmen allen anderen Parteien Stimmen weg. Wirklich gewonnen haben die Grünen mit einem fulminanten Stimmenergebnis, gegen den medialen Veröffentlichungstrend, der die Grünen seit Wochen nach unten schreibt. Und gewonnen hat auch die SPD. Nicht so viel, wie sie sich gewünscht hatte. Aber gemessen am letzten Landtagswahlergebnis steht ein Pluszeichen vor ihrem Ergebnis. Und verloren haben alle. die Parteien, das Land, die politische Kultur: Die Wahlbeteiligung von etwa siebenundfünfzig Prozent zeugt davon, daß der Trend der Entfremdung von Politik und Politikern nicht gebrochen werden konnte, Piraten hin, Piraten her.

Diät(en)

Diät ist, cum grano salis, gesunde Lebensführung und Diäten sind eigentlich Tagegelder für Parlamentarier, die ursprünglich in Deutschland, im neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, ehrenamtlich tätig waren und für ihr Mandat nicht entlohnt werden durften. Gesunde Lebensführung und Tagegelder oder Entlohnung für Parlamentarier stehen nicht schon an sich in Widerspruch zueinander. Wer wollte etwa den nordrhein-westfälischen Landtagsabgeordneten eine gesunde Lebensführung unmöglich machen, beispielsweise durch eine Kürzung der Tagegelder, der Diäten? Niemand. Heutzutage ist Abgeordneter vielfach ein Vollzeitberuf, der auch entsprechend entlohnt werden muß. Ein Vollzeitberuf, für den nicht selten die bisher ausgeübte Tätigkeit aufgegeben wird. Und wer Verantwortung für das Gemeinwesen übernimmt, sollte dies nicht nur tun können, weil seine Privatschatulle reichlich gefüllt ist. Ein im Wortsinn billiges Parlament ist für die Menschen im Land keineswegs die beste Lösung. Sachverstand, politische Leidenschaft, Unabhängigkeit oder die hohe zeitliche Belastung haben ihren Preis. Und den sollten wir Bürger gerne entrichten, denn desto besser werden wir auch regiert. Folgerichtig liegt auch eine angemessene Altersversorgung der Parlamentarier in unser aller Interesse. Aber: Müssen Abgeordnete des nordrhein-westfälischen Landtages nach nur vier Jahren im Parlament eine Rente erzielen können, die dem drei- bis vierfachen der Rente eines Dachdeckers oder oder eines Automobilarbeiters entspricht? Nein. Vor allem nicht in einer gesellschaftlichen Lage, in der de facto die Rentenansprüche der Bürger gekürzt werden, über die Regelung einer längeren Lebensarbeit bis Siebenundseechzig. Zudem: Die Diätenregelungen sind erst vor wenigen Jahren im Landtag neu gefasst worden, samt der Bestimmungen zur Altersversorgung der Abgeordneten. Nun aber hat eine unheilige Koalition von SPD, CDU und Grünen beschlossen, den Abgeordneten zusätzlich € 500 im Monat für eine verbesserte Altersversorgung zu bewilligen. Die öffentlich Hand ist verschuldet, allenthalben mahnen Politiker aller Couleur die Bürger zu Sparanstrengungen, Kommunen hängn am Tropf von Banken, Bibliotheken, Badeanstalten werden geschlossen, Personal wird entlassen, Schulen, Kindergärten oder Universitäten könnnen nicht renoviert oder gar ausgebaut werden. Die Diätenerhöhung ist das falsche Signal. Sie wird den Verdruß der Bürger weiter fördern, Verdruß mit der Politik, Verdruß mit den Politikern, Verdruß mit den Parteien. Es wäre fatal, wenn die schwarz-grün-rote Koalition den Bürgern das Signal geliefert hätte, den eigentlich bereits erledigten Kleinstparteien Linke oder FDP zu einer neuen Renaissance verholfen zu haben. Wundern dürften sie sich nicht.

“Land ohne Linke”

“Es ist schon erstaunlich, dass Deutschland ausgerechnet in Zeiten des dramatischen Niedergangs einer bürgerlichen Regierung ein Land ohne Linke ist – zumindest ohne funktionierende Linke.” So beginnt der neue Beitrag von Michael Spreng in seinem Blog “Sprengsatz“. Interessanter Satz eines konservativen Publizisten. Und ist sein Befund schon nur deswegen falsch, weil Spreng kein ausgewiesener Linker ist? Spreng diagnostiziert einen Niedergang von SPD und Linkspartei parallel zum “Abstieg von FDP und CDU/CSU”. Die Linkspartei sei weitgehend mit sich selbst beschäftigt. Und die SPD irrlichtere mal hier, mal da, sei  irgendwie “von allem ein bißchen”. “Ein bisschen Abkehr von der Agenda 2010, ein bisschen Beharren darauf. Ein bisschen Abkehr von Rente mit 67, ein bisschen Bekräftigung der Erfindung ihres Ex-Parteichefs Franz Müntefering. Die SPD ist überall und nirgendwo. So wie ihr Personal: Sigmar Gabriel ist überall, aber nirgendwo richtig,  Andrea Nahles ist immer nirgendwo, und Frank-Walter Steinmeier arrangiert sich einerseits und verlangt andererseits Stolz auf die Agenda 2010. Typisch für die SPD ist ihre Haltung zu ‘Stuttgart 21’, ein bisschen dafür, ein bisschen dagegen. So marginalisiert sie sich selbst. Kein Wunder, dass sie inzwischen in Umfragen immer wieder hinter den Grünen rangieren.” Und die Grünen schließlich seien keine Linke Partei mehr, “sie changieren  zwischen bürgerlich und außerparlamentarisch, versuchen den Spagat zwischen alten und neuen Wählern”. Kulturell stünden die Grünen der Merkelschen CDU näher als etwa der Linkspartei. “Für ihre neuen Wähler, die ökobewußten Rucola- und Latte-Macchiato-Eltern mit ihren 500-Euro-Kinderwagen, ist die Linkspartei so attraktiv wie eine wässrige Soljanka.” Kurzum, so Spreng, es gebe derzeit kein linkes, kulturell homogenes Lager mehr wie noch 2002. “Die Linkspartei ist das Unterstadt-Schmuddelkind, mit dem keiner aus der Oberstadt spielen will. Die SPD schwankt zwischen rückwärtsgewandt und opportunistisch. Es gibt kein gemeinsames Lebensgefühl, im Gegenteil, die Welten zwischen Grünen, SPD und Linkspartei driften immer mehr auseinander.” Schade nur, daß der Befund von Spreng an dieser Stelle abbricht und er sich mit der eher lahmen Einschätzung begnügt, daß von dieser Entwicklung die CDU/CSU nicht profitieren, sondern die Wahlbeteiligung vermutlich weiter sinken und der Zufall über die Regierungsbildung entscheiden werde. Ist die “bürgerliche”, die “christlich-neoliberale” Koalition das rechte Lager?  Dann stellen wir fest, daß sich binnen Jahresfrist das kulturell homogene rechte Lager zerlegt hat und die Welten zwischen Freidemokraten, Christsozialen und Christdemokraten ebenfalls immer mehr auseinanderdriften. Die kleinen Koalitionspartner sehen ihr Heil in noch ärgerer Bedienung ihrer Klientel, der Ärzte und Apotheker, der Hoteliers oder Rechtsanwälte. Die große Koalitionspartei bedient vorwiegend die Interessen der großen (Energie-)Wirtschaft. Und alle zusammen scheren sich keinen Deut um um die Belange der vielen, der Mehrheit im Lande, des Volkes. Es geht nur noch um die Klientel und den Machterhalt. Die Parteien, alle Parteien haben das Große und das Ganze nicht mehr vor Augen. Das Gemeinwesen und das Gemeinwohl treten zurück hinter die Partikularinteressen. Die Folge: Die Bindungskraft der Parteien, in ihrem Gefolge auch die gesellschaftlicher Großorganisationen, Kirchen, Gewerkschaften, Verbände läßt merklich nach. Die Milieus in der Republik können nicht mehr eindeutig politischen Strömungen zugeordnet werden. Die Menschen verabschieden sich mehr und mehr von gedankenloser Unterordnung unter gesellschaftliche, ideologische, religiöse Vorgaben. Die Begriffe von einst verlieren ihren Glanz: Links, Rechts, Progressiv, Konservativ. Lager werden zusehends mehr erkannt als das, was sie immer auch waren: Bequeme Grenzen, innerhalb derer gedankliche Anstrengungen, Neugier, Kommunikationslust, Streit ums Bessere, Querdenken, Unangepaßtheit, Freigeist unangebracht waren und sind. Die Parteien wirken an der politischen Willensbildung des Volkes mit, sagt uns unser Grundgesetz. Aber die Parteien leisten sie nicht alleine, im Gegenteil, sie leisten die politische Willensbildung immer weniger. Sie leisten auch sich politische Willensbildung immer weniger. Hermetische Parteien und unempfindliche Kirchen, Verbände oder Gewerkschaften kann sich eine wohlverstandene bürgerliche Gesellschaft immer weniger leisten. Vielleicht ist das Schlichtungsverfahren um Stuttgart 21 ein Fingerzeig. Hier wird öffentlich verhandelt, mittels modernster Kommunikationstechnologien. Auf Augenhöhe. Hier wird deutlich, daß die ehedem arrogante Nutzung von Machtpositionen auf erheblichen Sachverstand noch machtloser Bürger trifft. Winkelzüge, ideologische Salbaderei, politische  Tricks werden hier erkennbar. Transparenz wird zum Kernstück neuer demokratischer Prozesse. Und also gibt es hier massenhaftes Interesse, Zulauf. Demokratie muß sich ja nicht auf die erschöpften Rituale erschöpfter Parteien beschränken.

Unkraut-Posse

“Die Liberalen vor Ort reden nicht nur über Unzulänglichkeiten und legen den Finger in die Wunde, sie handeln auch: am kommenden Freitag soll das Unkraut am Rathaus fachgerecht entfernt werden.” Das ist wirklich der erste Satz eines Artikels in der heutigen Bergischen Morgenpost. Er liest sich, als wäre er unverändert aus der Pressemeldung der örtlichen Liberalen übernommen worden. Die FDP legt also den Finger in die Unkrautwunde der Stadt, die Henning Rehse in einem empörten Brandbrief an die Stadtverwaltung aufgerissen hat. Nur zur Erinnerung: Henning Rehse von der WNKUWG und Werner Güntermann von der FDP sind beide Alphatiere der “Regenbogenkoalition”, die den Bürgermeister stellt und über den größten Einfluß auf die Politik der Stadtspitze verfügen dürfte. So sieht eben die provinzielle Variante des Sommerlochs aus. Wenn die Regenbogenkoalitionäre keine anderen Sorgen haben, steht es um die Stadt ja nicht so furchtbar schlecht. Ich warte jetzt nur auf die Grünen und ihren Vorschlag, vor der “fachgerechten Unkrautentfernung” eine ordentliche Bestimmung der Kräuter und Pflanzen vorzunehmen, die da am Freitag gemeuchelt werden sollen. Zum Unkraut gehören nämlich nicht nur Löwenzahn, sondern auch Ehrenpreis, Vogelmiere, Taubnessel, Greiskraut, Rispengras, Vogel-Knöterich, Gänsedistel, Kleine Wolfmilch oder das Knopfkraut. Tja. Und am Samstag wird ein weiterer Bericht in der Morgenpost zu lesen sein, mit großem Photo, das die FDP-Gärtner bei der segensreichen Zupfaktion zeigt. Henning Rehse wird sich überlegen müssen, ob er nicht auch mit aufs Bild möchte, zupfend, um die Einheit der Koalition zu retten. Unkraut vergeht eben nicht.

Genosse – oder so …

Genosse, das leitet sich vom althochdeutschen “ginoz” ab und das ist jemand, der mit einem anderen etwas genießt. Noch zu finden im deutschen Wort “Bettgenosse”. Heute aber bezeichnet das Wort eher einen Gefährten, jemanden, mit dem man eine gemeinsame Erfahrung in einem bestimmten Bereich teilt, der dieselben Ziele hat und auf den man sich aus diesem Grund verlassen kann. Gemeint ist meist die Politik, Politik linker Parteien, Sozialdemokraten, Sozialisten oder Kommunisten.  Nun wird es zusehends schwieriger, Politik und Genuß unter einen Hut zu bekommen. Früher, als Parteien, linke zumal, auch Familienersatz waren, Heimat, soziale Umgebung, Umfeld, da hatte das Wörtchen Genosse seinen besonderen Sinn. Man arbeitete zusammen, kämpfte gemeinsam für die gleichen Interessen, lebte gemeinsam, im Viertel, Stadtteil, in sozialen Verbänden, Gewerkschaften, Genossenschaften. Und die, denen man zugetan war, von denen man lernte, die man beschützte, das waren die Genossen. Heute ist eher so etwas wie intellektuelle Übereinstimmung in politischen Fragen zu finden, nicht mehr aber gemeinsames Leben, Arbeiten und Kämpfen. Genosse ist man im Kopf. Mehr als mit dem Leib. Ich bin auch ein Genosse. Ein Gast-Genosse, um es genau zu sagen. Gast und Genosse der Wermelskirchener SPD. Für ein Jahr. Und heute Abend habe ich wieder einen tiefen Blick in das Innenleben der Sozialdemokratischen Partei werfen dürfen. Mitgliederversammlung. Thema: Koalitionsvertrag. Gut vorbereitet, eine stringente Diskussion, die vor allem die Frage behandelte, welche Auswirkungen die Absichtserklärungen auf Landesebene für die praktische kommunalpolitische Arbeit haben dürften. Dabei standen zwei Themenbereiche im Vordergrund: Bildung und Schule sowie die Kommunalpolitik, kommunale Finanzen, Änderungen der Gemeindeverfassung, Schulden. Das Dilemma: Die Partei ist die Fraktion und das Denken der Fraktion beherrscht das Denken der Partei. Vermutlich ist das bei den anderen Parteien hier im Ort nicht grundlegend anders. Was wichtig ist für den Rat und die Ausschüsse, das ist Thema der Partei. Kommunalpolitik wird verengt auf Rat und Verwaltung. Und dann fehlt am Ende die Kraft, sich auch den ganz anderen Themen zuzuwenden, die mit dieser eng verstandenen Kommunalpolitik nicht zu treffen sind. Was denken die Bürger? Welche Debatten gibt es in der Stadt? Können wir gegen den Wegzug des Kinderarztes etwas ausrichten? Wenn nein, befassen wir uns nicht sehr gründlich damit. Weil wir keinen Einfluß haben und keinen Zugriff. Haben wir Möglichkeiten, kommunale wohlverstanden, gegen die Verlagerung der Polizeistation etwas zu unternehmen? Nein, Landessache. Also mischen wir uns nicht ein. Auf diese Weise wird politische Kultur verengt. Auf Machbarkeit. Einmischen? Natürlich! Aber dort, wo wir  Handlungsmöglichkeiten haben. Alles andere will gut bedacht sein. Auf diese Weise wird öffentliche Kommunikation drittrangig. Nicht nur in der SPD. In allen anderen Parteien auch. Von Ausnahmen abgesehen, etwa den Leserbriefen von Henning Rehse. Und mit diesen Briefen will Henning Rehse punkten, für die WNK.  Das ist vollkommen legitim. Aber kein Beitrag zu einer öffentlichen Kommunikationskultur der Parteien. Zudem schreibt die Leserbriefe immer wieder nur Henning Rehse, nicht auch andere WNK-Leute. Grüne, Linke, Büfo, CDU, immer mal wieder ist etwas zu lesen, nicht wirklich viel, aber zu Themen aus Rat und Verwaltung. Kinderarzt oder Polizeistation sind nur zwei willkürlich gegriffene, aber gute Beispiele. Warum gibt es keine parteiübergreifende Initiative, solche Dinge breit und öffentlich zu behandeln? Nur, weil wir, die Parteien, vordergründig nichts ändern können? “Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.” So heißt es im Artikel 21 (1) unseres Grundgesetzes. Wirken mit. Tun sie aber oft genug nicht. Der Bürger macht sich so seine Gedanken, meist an den Parteien vorbei. Sammelt mitunter sogar tausende von Unterschriften, so ganz ohne die Parteien. Weil die Parteien oft dort nicht sind, wo Bürger Sorgen haben, debattieren, wo öffentlicher Meinungsaustausch ist. Politische Willensbildung geht weit über das hinaus, was im kommunalen Rahmen in Rat oder Verwaltung eine große Rolle spielt. Zur politischen Willensbildung gehören auch die  zentralen Begriffe und Werte, die unsere Demokratie auszeichnen, etwa Gemeinwesen, Gemeinwohl. Was ist das? Geht Politik immer noch vom Gedanken des Gemeinwohls aus? Welche Werte bestimmen und beherrschen unsere Gesellschaft? Wie verhält es sich mit der Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft? Geht es gerecht zu in unserem Land, in unserer Stadt? Lassen wir, lassen sich die Parteien immer von diesem Grundgedanken sozialer Gerechtigkeit leiten, wenn sie ihre Politik entwickeln? Wie bestimmen wir das Verhältnis von politischer Konkurrenz, von der Vertretung von Interessen und dem Gemeinwohl? Sitzen in solchen Fragen die Parteien nicht eigentlich im selben Boot? Offenbar nicht. Denn Debatten über politische Kultur – und darum geht es – stehen zurück hinter Ratsproblemen und Verwaltungsfragen. Kein Wunder, finde ich, daß Politik nicht mehr sexy ist, daß die Parteien einen Bedeutungsverlust erleiden, auch auf kommunaler Ebene. Wer das Gespräch der Bürger nicht fördert, wird von den Bürgern auch nicht mehr gefragt, nicht mehr gefordert, nicht mehr wahrgenommen, nicht mehr als nützlich empfunden. All das ist kein spezifisch sozialdemokratisches Problem. Es trifft Christ- oder Freidemokraten gleichermaßen, Grüne oder Linke, Büfo oder WNK. Wie soll sich Meinungsfreude entwickeln, Debattierlust, Mitwirkung, wenn Parteien nicht über ihren Tellerrand kommunalpolitischer Mühsal schauen können? Wie soll eigentlich Zivilcourage entstehen, gestärkt, vorgelebt werden im Gemeinwesen, wenn sich in Parteien immer wieder die Bekehrung der Bekehrten vollzieht? Ab morgen werden wir in Nordrhein-Westfalen mit einem für unser Land vollkommen neuen Politikmodell zu tun haben, einer Minderheitsregierung. Einer Regierung, die sich von Fall zu Fall ihre Mehrheiten neu suchen muß. Die alten Antworten werden nichts mehr wert sein. Fundamentalopposition, wie von der CDU angekündigt, ist der falsche Weg. Wer garantiert der CDU eigentlich, daß ihr Einfluß durch eine solche Politik größer wird? Politik muß, dafür sorgen die Wähler nunmehr fast bei jeder Wahl, neue Antworten finden, auf neue und alte Fragen. Politik muß kommunikationsfähiger, kommunikationsfähig werden, nach innen und in Richtung der Bürger. Und ob man sich nun Genosse nennt oder Parteifreund, Bruder oder Kamerad, das spielt in Wahrheit keine große Rolle. Merkwürdig, welche Gedanken einen ereilen, nur weil man einen warmen Abend lang ohne auch nur eine Zigarette auf eigentlich doch erfreuliche Weise politische Fragen diskutiert und es genossen hat. Mit den Genossen. Mal wieder.

Warum eigentlich nicht?

“Gestaltungsmacht aus der Opposition heraus.” Kraftvoll klingt das in meinen Ohren nicht, was Hannelore Kraft nach den gescheiterten Sondierungsgesprächen nunmehr als Strategie für die SPD im Land ausgibt. Warum eigentlich bilden SPD und Grüne keine Minderheitsregierung? Frau Kraft könnte sich im vierten Wahlgang mit einfacher Stimmenmehrheit im Landtag zur Ministerpräsidentin wählen lassen. Das sieht die Landesverfassung  im Artikel 52 (2) vor. ” Kommt eine Wahl gemäß Absatz 1 nicht zustande, so findet innerhalb von 14 Tagen ein zweiter, gegebenenfalls ein dritter Wahlgang statt, in dem der gewählt ist, der mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen erhält. Ergibt sich keine solche Mehrheit, so findet eine Stichwahl zwischen den beiden Vorgeschlagenen statt, die die höchste Stimmenzahl erhalten haben.” SPD und Grüne stellen im neuen Landtag zusammen neunzig Mandate, FDP und CDU dagegen nur achtzig. Daß die Linke mit ihren elf Abgeordneten in einer solchen Abstimmung Jürgen Rüttgers ins Amt hievt, ist doch eher unwahrscheinlich. Es bestünde mithin eine veritable Chance, die nunmehr geschäftsführende schwarz-gelbe Regierung abzuwählen. Minderheitsregierungen und damit wechselnde Mehrheiten sind an sich nichts Ungewöhnliches im Politikbetrieb. In den skandinavischen Ländern, selbst in Holland oder Belgien oder anderen Nachbarländern hat es das schon häufiger gegeben. Offenkundig sind die politischen Parteien hierzulande, alle, noch nicht imstande, mit den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen umzugehen, wie sie in den Wahlergebnissen zum Ausdruck kommen. Sie klammern sich verzweifelt an die hergebrachten politischen Muster. Nicht jeder kann mit jedem, Koalitionsverträge müssen für die Dauer einer Legislaturperiode halten. Warum eigentlich? Warum eigentlich können SPD und Grüne nicht mit der FDP in der Rechtspolitik Gesetze beschließen? Warum eigentlich können SPD und Grüne mit der CDU nicht steuerpolitisch das Richtige tun? Warum eigentlich können Grüne und SPD mit der Linken nicht schulpolitisch neue Weichen stellen? Warum eigentlich nicht? Gerade jetzt ginge es darum, mit gehörigem politischen Mut gesellschaftliche Reformen voranzubringen, zur Not eben mit wechselnden Mehrheiten. Stattdessen erheben die Parteien die wechselseitige Blockade in den Stand der politischen Weisheit. Und nachgerade dumm ist es, die Regierung den Kräften zu überlassen, denen an Veränderung nicht gelegen ist. Jetzt muß es doch vor allem darum gehen, daß die Spaltung der Gesellschaft nicht weiter vertieft wird. Also muß von Nordrhein-Westfalen aus der Versuch gemacht werden, die unsoziale Politik der Bundesregierung über den Bundesrat zu bremsen, also muß von Nordrhein-Westfalen ein Signal ausgehen, sich im parlamentarischen Fünf-Parteien-System der vorhandenen Fesseln der Parteipolitik zu entledigen.

Linker Thinktank

Ein Thinktank ist eine “Denkfabrik”. Aus den USA kommend, wo sie sehr verbreitet sind und meist einer Partei oder politischen Bewegung nahe stehen, sind Thinktanks hierzulande noch nicht sehr verbreitet. Die Initiative “Neue Soziale Marktwirtschaft” ist vielleicht die bekannteste vergleichbare Einrichtung in Deutschland. An diesem Wochenende wollen nun Sozialdemokraten, Linke, Grüne und Ökologen eine linke Denkfabrik ins Leben rufen. Hermann Scheer, SPD-Bundestagsabgeordneter, Sven Giegold, Europaparlamentarier der Grünen und Mitbegründer von Attac, Katja Kipping, Bundestagsabgeordnete der Linken, gehören zu den Gründern. “Es geht um einen gesellschaftspolitischen Gegenentwurf zu dem, was man Neoliberalismus nennt”, sagt der SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer laut Süddeutscher Zeitung. “Ohne parteitaktische Erwägungen” sollen gesellschaftliche und ökologische Probleme beraten werden. Etwa: Wie kann unter veränderten wirtschaftlichen und technologischen Bedingungen der Sozialstaat erhalten werden? Wie laßt sich die parlamentarische Demokratie neu beleben. “Wir wollen die politische Kultur befruchten”, so Herman Scheer zur Süddeutschen. Auch, wenn auf diese Weise eine rot-rot-grüne Perspektive besser vorbereitet werden kann oder soll als weiland das “rot-grüne Projekt”, sollte man den Bogen vielleicht noch breiter spannen. Vielleicht könnten ja sogar eher konservative Stimmen auch eine linke Denkfabrik befruchten.