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Von Quoten und Qualität

Denn die Quote, also die Zahl derer, die eine bestimmte Sendung gesehen haben, ist zur entscheidenden Legitimation des öffentlich-rechtlichen Fernsehens geworden. Zum wichtigsten Argument gegen alle Kritik. Wenn mal wieder jemand kommt und sich mokiert, über die trostlose Machart und die papiernen Dialoge, die dämlichen Storys, die immer gleichen Besetzungen, die Totalredundanz der Drehbücher und die verdammte Geldverschwendung bei jenen Fernsehspielen, welche, nur zum Beispiel, um Viertel nach acht Christiane Hörbiger oder Christine Neubauer durch fadenscheinige Konflikte zu lächerlichen happy endings jagen; wenn wieder jemand bemerkt, dass die wirklich sehenswerten Dokumentationen grundsätzlich erst um halb zwölf Uhr nachts beginnen, zu einer Zeit also, da der werktätige Teil des Volks die Zähne geputzt hat und langsam mal einschlafen sollte: Dann kommt, von den Fernsehspielchefs und Programmdirektoren, immer wieder der gleiche Spruch: dass nämlich das öffentlich-rechtliche Fernsehen, wenn es schon von allen seine Gebühren kassiere, auch Programme für alle machen müsse, fürs Volk, die Masse, die Mehrheit. Und nicht nur für die Minderheit der Schnösel, Intellektuellen und Akademiker, welchen man es ohnehin nicht recht machen könne. Und schon deshalb lohnt es sich, die Zahlen genauer anzusehen. (…) Es sind, wenn nicht gerade ein „Tatort“ kommt oder die Bayern in der Champions League spielen, zur sogenannten Primetime, also zwischen sieben und zehn Uhr abends, um die 30 Millionen. Das scheint eine bestürzend hohe Zahl zu sein – allerdings besagt sie auch, dass jene Mehrheit, die doch erreicht werden soll, dass also 50 Millionen Deutsche eben nicht fernsehen. Wenn aber beide Zahlen stimmen sollen, der hohe tägliche Durchschnittskonsum und die riesige Zahl derer, die nicht fernsehen, kann das nur eines heißen: Es gibt sehr viele Menschen, die wenig oder gar nicht fernsehen. Und es gibt eine große Minderheit von Viel- und Dauerguckern. (…) Interessant ist der durchschnittliche Konsum der 14- bis 69-Jährigen. Die sehen 232 Minuten täglich fern. Was nichts anderes heißt, als dass der Durchschnitt von 250 Minuten nur so zustande kommt, dass jene, die älter als 69 sind, ihn nach oben treiben. Aber man tritt unseren Senioren vermutlich nicht zu nahe, wenn man ihnen unterstellt, dass sie sich über anspruchsvolleres Fernsehen nicht beschweren würden. Dass sie von den Programmverantwortlichen als billige Quotenbeschaffer genommen werden, ist jedenfalls keine Seniorenfreundlichkeit. Es ist der reine Zynismus. Wenn man aber tatsächlich die Mehrheit erreichen wollte, also die, die gar nicht oder sehr wenig fernsehen, brauchte man dafür all das, was heute fehlt: Mut und Können.

Claudius Seidl, Das Fernsehen und seine Zahlen. Die große Quoten-Lüge, in: Frankfurter Allgemeine, Feuilleton vom siebzehnten Juli Zweitausendundsechzehn

Verwüstung

Die Verwüstung der deutschen Sprache grassiert nicht nur im Alltag, sondern auch in jeder Zeitung, in der „Zeit“, der „Süddeutschen“, leider auch in Ihrer. Dass man nicht mehr „selbst“ und „selber“ auseinanderhalten kann oder dass „sicher“ geschrieben wird, wo „sicherlich“ gemeint ist, oder „scheinbar“ statt „anscheinend“. Oder es heißt: „Die syrischen Flüchtlinge flüchten nicht umsonst.“ Ja, umsonst ganz bestimmt nicht, denn sie müssen mindestens das Benzin für ihre klapprigen Autos bezahlen. Oder: „Augstein hat umsonst Reitunterricht genommen.“ Nein, so geizig war er nicht, er hat seinen Reitlehrer bestimmt bezahlt. Er hat aber vergebens Unterricht genommen, weil er es nicht gelernt hat. Wenn es aber schnurzpiepe ist, wie man sich ausdrückt, dann hebt das auch das Denken auf, dann stimmen zum Teil auch die Fakten nicht mehr, dann sind die nämlich auch wurst.

Fritz J. Raddatz, Kritiker und Feuilletonist, gestorben durch begleiteten Suizid im Februar Zweitausendundfünfzehn, in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Jahre Zweitausendundzwölf über Kunst als Dekor, die Verwüstung der Sprache und Stil als Korsett für Unsichere.

Hinten, weit in der Türkei …

Einfache Lösungen gibt es nicht. Das liegt nicht etwa daran, dass, wie Peter Gauweiler behauptet, das geltende Recht außer Kraft gesetzt worden wäre, sondern wohl eher daran, dass es sich dem Realitätsdruck der Krise nicht gewachsen zeigt. Das Schengen-Abkommen, der Asylkompromiss von 1992, der Vertrag von Lissabon und Dublin II haben dem Exportweltmeister Deutschland erlaubt, es sich in einem Krähwinkel weitab von Konflikten „hinten, weit in der Türkei“ gemütlich zu machen. Jetzt wird es nicht von „Strömen“ überrannt, sondern sieht sich mit einer Realität konfrontiert, die die Bundeskanzlerin bei ihrem Grußwort zum Gewerkschaftstag der IG Metall mit den Worten beschrieb: „die Globalisierung tritt sozusagen in unser eigenes Haus hinein.“ Das ist eine nüchterne Sachverhaltsbeschreibung, die ihre Politik besser beschreibt als auf sie projizierte Gefühlsregungen. Die leitende Angestellte in später Nachfolge des Hamburger Weltökonomen beschreibt die Lage, wie sie ist. Andere erwecken den Eindruck, als wollten sie sich vor ihr wegducken und als sei das eine Lösung. Peter Gauweilers Idee, dass jedes Land seine eigenen Grenzen schützen können muss, hält als Norm dem Realitätsdruck nicht stand. (…) Immer deutlicher gelangt eine Kette von Versäumnissen in den Blick: dass es keine europäische Asyl- und Migrationspolitik gibt, dass es auch nach Jahrzehnten des Debattierens kein deutsches Einwanderungsgesetz gibt, dass Deutschland seinen Zahlungsverpflichtungen für das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen nicht nachkommt, dass auch getroffene Beschlüsse viel zu langsam umgesetzt werden. (…) Der Politik Kontrollverlust vorzuwerfen, verkennt ihre tatsächliche Herausforderung, erzeugt als Boulevard-Trick die irrige Hoffnung, dass lautstarke Kontrollversprecher etwas besser regeln könnten als diejenigen, die sich redlich darum bemühen, der Lage gerecht zu werden. So bleibt am Ende die Hoffnung, dass sich die gemeinsamen Werte des Grundgesetzes und der Europäischen Union als belastbarere Grundlage für das politische Management der Krise und ihre Umsetzung in ordentliche Verwaltung bewähren.

Hans Hütt, Deutschlands Erfolg hat seinen Preis, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom sechsundzwanzigsten Oktober Zweitausendfünfzehn