Schlagwort: Angela Merkel

Wahlschlamassel

Michalis Pantelouris hat sein Leben lang SPD gewählt und erwägt jetzt, erstmalig für Angela Merkel zu stimmen, weil er ihre Flüchtlingspolitik für richtig hält. Ein Dilemma. Wohl wahr.

Wir sind aufgefordert worden, uns nicht von den Bildern trauriger Kinderaugen hinter Grenzzäunen erpressen zu lassen. Alexander Gauland von der AfD hat das gesagt, der inzwischen wenig mehr ist als ein Provokateur, aber ich glaube schon, dass er damit Ängste benannt hat, die mehrheitsfähig sind. Deutschland hat Angst, überrannt zu werden von den Eltern dieser Kinder. Nur: Ich kann das nicht. Ich habe zwei Kinder, und ich glaube, eine reiche Gesellschaft, die sich vom Leid von Kindern nicht zum Handeln bringen lässt, ist eine zynische Gemeinschaft von Leuten, die ihre Ängste wichtiger nehmen als ihre Überzeugungen. Deshalb war ich beeindruckt von der Bundeskanzlerin, die europäische Menschlichkeit auch noch verteidigte, als es unpopulär wurde. Als es ihr politisch geschadet hat. Ich habe zum ersten Mal in ihrer sich längst ewig anfühlenden Amtszeit so etwas wie Stolz auf meine Kanzlerin empfunden, und was schlimm ist: Ich spüre so etwas wie pragmatischen und moralischen Druck, sie zu wählen. Und das wäre furchtbar für mich, denn ich bin ein linker Sozialdemokrat. Merkel zu wählen hieße, die CDU zu wählen, was für mich völlig undenkbar ist, weil ich wirklich alles falsch finde, was diese Partei und erst recht die CSU vertritt, von der Euro-Politik bis zur Herdprämie, von TTIP bis zur Vorratsdatenspeicherung. Ich will weder Schäuble wählen noch »Es wird in Europa wieder Deutsch gesprochen«-Kauder noch sonst irgendwen dort. Es ist schlimm genug für mich, dass meine Partei, die Sozialdemokraten, diesen ganzen Unsinn in der Großen Koalition mitträgt, sehr schlimm sogar. Aber eine Partei wählen zu müssen, bei der man alles ablehnt? Wie soll das gehen? Kann das gehen? Muss das sein? Meine Gedanken sind folgende: Für mich ist Merkel die Einzige, die Europas Flüchtlingspolitik so beeinflussen kann, dass Europa seine Seele nicht komplett verliert und alles verrät, wofür dieses große Friedensprojekt in den vergangenen siebzig Jahren gestanden hat. Setzen sich die anderen durch, sterben und leiden noch mehr Menschen. So einfach. Dabei finde ich nicht alles gut, was Merkel in der Flüchtlingspolitik macht, und ich bin auch nicht naiv. Mir ist völlig bewusst, dass die Aufnahme und Integration der vielen aus Kriegsgebieten flüchtenden Menschen eine schwere Aufgabe wird. Aber mir ist »schwer« immer noch lieber als »menschenverachtend«. Ich glaube, wenn irgendjemand anderer als Angela Merkel im Herbst 2017 Bundeskanzler werden sollte, wird die furchtbare Situation an den europäischen Außengrenzen und in den Lagern jenseits Zentraleuropas nur noch schlimmer. Allerdings halte ich es für unwahrscheinlich, dass jemand anderer Kanzler wird. Wer denn? Sigmar Gabriel? Eben. Ich glaube aber auch, dass ein schlechtes Ergebnis für Merkel bedeuten würde, dass ihre parteiinternen Kritiker – also praktisch die gesamte CDU – das als »Denkzettel« für ihre Flüchtlingspolitik interpretieren werden und ihr Stand noch viel schwieriger wird, als er heute schon ist, angesichts der Angst der Konservativen vor dem rechten Rand. Sie könnte meine Stimme brauchen. Aber es wäre eine Stimme für die CDU. Es gibt natürlich Parteien, deren Bekenntnisse in der Flüchtlingspolitik viel besser zu mir passen. Natürlich die SPD, bei deren Abgeordneten ich mir im Moment selten ganz sicher bin, was sie eigentlich wollen, aber besser und menschlicher als die CDU können sie Flüchtlingspolitik selbst, wenn man sie nachts weckt und mit verbundenen Augen kopfüber an ein Kettenkarussell hängt. Nur nützt mir das nichts, weil ich im Leben nicht glaube, dass die SPD den nächsten Regierungschef stellt. Bei den Grünen ist es das Gleiche. Am Ende muss sich Merkel an- gesichts eines schlechten Ergebnisses ihren Kritikern beugen und Dinge tun wie »die europäischen Außengrenzen sichern« – gegen Schlauchboote voller nasser, unterkühlter Familien.  Alles, weil ich Wolfgang Bosbach nicht wählen will. Oder Erika Steinbach. Oder gar diese komplette CSU- Riege, von Dobrindt bis Scheuer. Aber die Frage ist doch, wenn man es nur ein bisschen zuspitzt: Wenn ich es ernst meine damit, dass ich glaube, es würden Menschenleben gerettet, Schicksale zum Besseren gewendet werden und in Europa ein Rest Humanität gegenüber Menschen in größter Not gewahrt, wenn Merkels Flüchtlingspolitik mehr Unterstützung erfährt – muss ich dann nicht die CDU wählen? Müssen dann nicht viel mehr Leute wie ich allein wegen Merkel diese Partei wählen, deren Personal und Positionen wir für reaktionär und dumm halten? Und wenn es mir so wichtig ist: Warum fällt es mir dann trotzdem so verdammt schwer, auch nur darüber nachzudenken?  Natürlich ist die politische Überzeugung Teil der Identität, und die verrät man nicht leicht. Auf der anderen Seite sind wir alle erwachsen und wissen, dass in der real existierenden Politik niemand immer recht hat und regelmäßig keiner völlig recht. Insofern kann es ja auch nicht so ein Drama sein, einmal taktisch wegen eines Sachthemas die Falschen zu wählen. Aber es ist eben doch ein Drama. Allein der Gedanke tut sauweh. Ich kann ja auch nicht dazuschreiben, »Freu dich nicht über meine Stimme, Schäuble, ich habe euch nur wegen der Flüchtlingspolitik gewählt!« Das wäre wie in dem Witz, wo Ostfriesen Nutten ärgern, indem sie ihnen auf dem Straßenstrich hundert Euro in die Hand drücken und dann ganz schnell abhauen. Funktioniert einfach nicht. Die freuen sich trotzdem. Und wenn wir alle Pech haben, singt Volker Kauder wieder Tage wie diese. Feixend. Ein Albtraum. Sollte ich dafür verantwortlich sein? Heimlich bete ich, dass sich das Problem für mich lösen wird und Europas Regierungschefs rechtzeitig einsehen, wie die Geschichte über sie richten wird, wenn sie weiterhin nichts unternehmen. Sonst muss ich dahin gehen, wo es mir weh tut. Sehr weh.

Michalis Pantelouris, Erst links, dann rechts, in: Süddeutsche Zeitung, Magazin, Heft Neunundzwanzig aus Zweitausendsechzehn.

Rehse: Merkel schuld an Toten und Verletzten in Brüssel

Wie kann man eine solche Formulierung verstehen? “Ich frage mich, wann jemand den Mut aufbringt, dieses oder jenes zu machen?” Doch wohl nur so, dass man selbst unbedingt der Meinung ist, dass dieses oder jenes auf jeden Fall gemacht werden müsse. Wer so schreibt, der will, das jemand das macht, was man sich wünscht und für richtig hält. IMG_1215Diesen Kommentar hat Henning Rehse heute auf einer seiner Facebookseiten eingestellt. Henning Rehse ist mithin der Meinung, dass sich die Bundeskanzlerin der Beihilfe zu Tötungsdelikten schuldig gemacht habe. Nein, tun wir das nicht ab als irgendwie bekloppte Meinung eines orientierungslosen lokalen Politikers, eines unbedeutenden Ahnungslosen, eines verirrten Rechtsradikalen. Ich finde, es wäre hohe Zeit für die Parteigenossen des Herrn Rehse, sich einmal deutlich zu positionieren. Ist die Bundeskanzlerin mitschuldig an den Toten und Verletzten von Brüssel? Ich warte auf die Antworten der Wartmanns, Kellners, Paas‘, der Opitz’, Bornholds, Kinds, der Seidels oder Bernhards. Wenigstens einer oder eine, bitte.

Lengsfeld’sche Cerebralphimose

Vera Lengsfeld heute auf Twitter: “Gelobt sei Angela Merkel, die Warmherzige, die Vorausschauende. Sie hat alles dafür getan, dass der Terror in Europa Fuß fassen kann und seine Söhne hier die eigene Zukunft von einer gestörten Welt verwirklichen können.” Und weiter: “Lasst uns Angela Merkel feiern, sie hat es geschafft!”  Lengsfeld saß von Neunzehnhundertneunzig bis Zweitausendundfünf als Abgeordnete im Bundestag. Bis Neunzehnhundertsechsundneunzig für die Grünen, danach für die CDU. Es ist ja nicht so, daß es mir Mühe machte, die Dummheit mancher Schranzen zu begreifen, die nicht verkraften können, daß sie kaum mehr eine öffentliche Zukunft haben. Was ich kaum ertragen kann, ist die ungeheure Anstandslosigkeit, mit der sich Menschen öffentlich äußern. Wer so am Tage der Toten von Brüssel formuliert, hat wahrlich keinen Funken Anstand im Leib.

 

Von der Fischer im stehenden Gewässer der Stagnation

(…) Das Interessante aber ist: Helene Fischer interpretiert keine Musikstile, sie nimmt sie in Besitz. Wenn sie Rockmusik oder Swing singt, hat man nicht das Gefühl, dass sie in das jeweilige Genre und in dessen Lebensgefühl eintaucht; eher fühlt es sich an wie das Gegenteil: Fischer „rockt“ und „swingt“ nicht, vielmehr werden Rock und Swing „gefischert“. (…) Es ist ganz gleich, was sie singt, es klingt immer und in allererster Linie nach Helene Fischer. (…) Helene Fischer kann alles singen, was jemals komponiert wurde. (…) Gerade weil Musik aber immer Ausdruck des Zeitgeist ist, wurde die Rockmusik, als sie entstand, von den älteren Generationen verabscheut und als „Bedrohung für das Abendland“ angesehen: Diese Musik entsprach dem Lebensgefühl der damaligen jungen Generation, es roch nach Revolte, nach Schweiß, nach Ausbruch, nach Wildheit und Erotik – anders formuliert: Ja, das Abendland sollte tatsächlich – zumindest ein Bisschen – ins Wanken geraten und zum Einsturz gebracht werden. Helene Fischer schwitzt nicht, sie versprüht auch weder Wildheit noch Ekstase oder gar Revolte und Erotik. Ihre „Personality“ ist so perfekt stilisiert, dass sie keiner Wandlung mehr zu bedürfen scheint. Fischer nimmt der Musik, die sie singt, ihre eigentliche Bedeutung – und dies gerade dadurch, dass sie Musik eben nur als Aneinanderreihung von Tönen betrachtet und nicht als Ausdruck von unterschiedlichen Kulturen und Subkulturen, man könnte auch sagen: „Parallelgesellschaften“. Fischer verhilft diesen Kulturen nicht zu ihrem Recht, sondern sie entkernt sie, verwischt alle Unterschiede und reduziert sie auf den kleinsten gemeinsamen Nenner singbarer Seichtheit. (…) Helene Fischer ist eine außergewöhnlich gute Sängerin, und es ist in einer freien Gesellschaft ebenfalls statthaft, mit Florian Silbereisen liiert zu sein. Dass Fischer extrem erfolgreich ist, taugt ebenfalls nicht zur Angriffsfläche, vorausgesetzt, man möchte sich nicht einfach nur auf billige Kommerzkritik beschränken. Fischer trifft wie kaum jemand sonst den Nerv der Zeit. Sie weiß, dass ihr Erfolgsrezept funktioniert: Sie muss einfach nur Helene Fischer bleiben und singen, was man ihr vorschlägt. (…) Dass sie dafür als vielseitig und multikulturell und integrativ gelobt wird, liegt am heutigen Zeitgeist: Wir leben nicht in einer Epoche, die sich durch knallharte und trennscharfe Positionen, Identitäten und Kulturen auszeichnet. Standpunkte werden nicht mehr bis ins Kleinste ausdiskutiert und auseinander dividiert, man bleibt eher pauschal und an der Oberfläche, aber dadurch auch wenig profiliert und überzeugend. Anstatt Unterschiede zu definieren und zu erklären, ist es zeitgemäßer, grundlegende Gemeinsamkeiten herauszustellen, die jedem Individuum eine begrenzte Freiheit der Selbstgestaltung ermöglichen, aber freilich, ohne ernsthaft aus dem Rahmen zu fallen. (…) Im gesellschaftlichen Stillstand und angesichts des Fehlens eindeutiger Polaritäten differenzieren sich Stile nicht mehr wirklich aus, sondern tendieren eher dazu zu verschwimmen. Das gilt für die kulturelle Welt in ähnlicher Weise wie für die politische Welt. Während Angela Merkel der Inbegriff der konfliktscheuen Konsenspolitik ist, verkörpert Helene Fischer das Kollabieren von einstigen kulturellen Identitäten im stehenden Gewässer moderner Stagnation. Es gibt also gute Gründe dafür, das Helene-Fischer-Phänomen nicht zu mögen. Die Sängerin ist das Aushängeschild einer bedauerlichen inhaltlichen wie kulturellen Verengung, die entsteht, wenn vormals Gegensätzliches und Auseinanderstrebendes die eigene Dynamik verliert, sich nach innen kehrt, aufeinander fällt und somit Unterschiede und Abweichungen zu Nebensächlichkeiten und Plattitüden zerquetscht. Kaum eine deutsche Künstlerin symbolisiert diese Entwicklung so perfekt wie Helene Fischer – verantwortlich für den Kollaps der Stile ist sie indes nicht. Sie singt es nur.

Auszüge aus einem, wie ich finde, sensationellen Aufsatz von Matthias Heitmann, auf den ich, gottlob, durch Axel Hegmanns Facebookhinweis gestoßen bin und den ich wärmstens weiterempfehlen möchte. Matthias Heitmann, Das Phänomen Helene Fischer und was es mit Angela Merkel zu tun hat, in: zeitgeisterjagd.de

Paris – eine Stadt, die das Leben feiert

Die Menschen, um die wir trauern, wurden vor Cafés ermordet, im Restaurant, im Konzertsaal oder auf offener Straße. Sie wollten das Leben freier Menschen leben, in einer Stadt, die das Leben feiert ‑ und sie sind auf Mörder getroffen, die genau dieses Leben in Freiheit hassen.
Dieser Angriff auf die Freiheit gilt nicht nur Paris ‑ er meint uns alle und er trifft uns alle. Deswegen werden wir auch alle gemeinsam die Antwort geben. (…) Und dann geben wir auch als Bürger eine klare Antwort, und die heißt: Wir leben von der Mitmenschlichkeit, von der Nächstenliebe, von der Freude an der Gemeinschaft. Wir glauben an das Recht jedes Einzelnen ‑ an das Recht jedes Einzelnen, sein Glück zu suchen und zu leben, an den Respekt vor dem anderen und an die Toleranz. Wir wissen, dass unser freies Leben stärker ist als jeder Terror.

Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem Pressestatement heute anläßlich der Terroranschläge von Paris

Gesichtslos

Heute wirkt jeder Versuch, ein konservatives Profil der Partei zu schärfen, seltsam aus der Zeit gefallen. (…) Nein, diese CDU gibt es nicht mehr. Und das deutsche Bürgertum, das sie einst getragen hat, auch nicht. Die Furchtsamen und Zornigen unter den deutschen Bürgern finden sich bei der AfD wieder oder sie gehen gar nicht mehr wählen. Fröhliche Bürger aber wählen die Grünen. Es gibt eine neue bürgerliche Normalverteilung im Land, und darin spielt die CDU eine andere Rolle als früher. Angela Merkel hat vermutlich noch das Beste daraus gemacht, als sie sich an Heiner Geißler hielt, den einflussreichsten Denker der Union. Er warnte vor Jahren: „Wer nach rechts rückt, wird links regiert.“ Der Preis: Unter Merkel wurde die Union zur gesichtslosen Partei der Mitte.

Jakob Augstein, Mission Merkel erfüllt! CDU: Was die SPD bereits hinter sich hat, steht der Union noch bevor: der Abstieg aus der Liga der Volksparteien, in: Der Freitag, Vierundzwanzig aus Zweitausendfünfzehn

Moralapostel Ronald oder Der die Kraft der Götter hat

Es ist ein erstaunlicher Vorgang, dass ein deutscher Minister schon Wochen nach seinem Ausscheiden die Reputation seines früheren Amtes für eine kommerzielle Tätigkeit nutzt. Das Vertrauen darauf, dass ein früherer Minister weiß, was sich gehört und er auch im Nachhinein seinem Amt schuldet, hat Ronald Pofalla gründlich zerstört. Pofalla geht es nicht um die Lokomotiven – es geht ihm um Kohle! Diese drei Sätzchen stammen nicht aus meiner Feder. Der Autor heißt Ronald Pofalla. Doch. Ich habe lediglich die Worte Bundeskanzler und Kanzler durch Minister ersetzt, den Namen Gerhard Schröder durch den Namen Ronald Pofalla und das Wörtchen Gas durch Lokomotiven. Und schon wird die ganze Windigkeit, die Wendigkeit, die ganze Unglaubwürdigkeit, die Skrupellosigkeit des gewesenen Kanzleramtsmanagers deutlich. Wenn es ihm in den politischen Kram paßt, haut er derbe drauf. Nicht feinsinnig, nicht mit dem Florett. Seine Waffe ist die Keule, der Baseballschläger. Obwohl er selber keine hat, bedient sich der näselnde Niederrheiner der politischen Moral. “Jetzt kommen wir an einer rechtlichen Regelung wohl nicht vorbei: Es ist offensichtlich eine Illusion zu glauben, dass der Appell an politischen Anstand alleine ausreicht, um solche Fälle zu verhindern. Ich könnte mir eine Art Selbstverpflichtung von Regierungsmitgliedern vorstellen, für die Zeit nach Ausscheiden aus dem Amt sich geschäftliche Rücksicht aufzuerlegen. Auch Karenzzeiten halte ich für vorstellbar.” So klang das im Jahr Zweitausendundfünf in der Hamburger Morgenpost. Ronald Pofalla macht sich zum Zensurenverteiler, zum Oberlehrer in Sachen politischer Moral. Und er geht ihm locker von den Lippen, der Vorwurf mangelnden politischen Anstands. Nicht nur mit Blick auf den politischen Gegner, wie man heute weiß. Sein Parteifreund Wolfgang Bosbach kann gewiß ein Liedchen singen vom Hüter des politischen Anstands aus Kleve. Was interessiert den Moralapostel Ronald sein Geschwätz von Vorgestern? Es ging dem Zensor der politischen Klasse nicht um politischen Anstand. Nie. Zu keiner Zeit. So schwadroniert Merkels Liebling daher, wenn er einen politischen Gegner treffen kann. Oder einen Parteifreund. Karenzzeit? Pofalla braucht keine. Selbstverpflichtung von Regierungsmitgliedern? Gewiß nicht für den Christdemokraten vom linken (igitt) Niederrhein. Kein Wunder, leitet sich der Vorname des Moralapostels doch ab vom altnordischen rögnvaldr. Und das heißt schließlich: Der die Kraft der Götter hat. Der Treppenwitz der Politik ist aber, daß Pofalla Recht hat. Jedenfalls mit dem Sätzchen, daß es “offensichtlich eine Illusion (ist) zu glauben, dass der Appell an politischen Anstand alleine ausreicht, um solche Fälle zu verhindern.” Rechtliche Regelungen müssen her. Unter der Kanzlerin Merkel ist es, leider, normal geworden, daß man sich quasi übergangslos vom Ministersessel auf den bestens dotierten Schreibtischstuhl an der Spitze eines Wirtschaftsunternehmens oder einer Lobbyorganisation begibt. Hildegard Müller, von der Staatsministerin im Kanzleramt mutiert zur Geschäftsführerin beim Hauptverband der Energie- und Wasserwirtschaft. Vor Pofalla hat sich Ex-Staatsminister Eckart von Klaeden den Job als als Cheflobbyist bei Daimler gesichert.  Regierungssprecher Ulrich Wilhelm wurde Intendant des Bayerischen Rundfunks Den Wirtschaftsberater der Bundesregierung, Jens Weidmann, machte Angela Merkel zum Bundesbankpräsidenten. Ich halte es durchaus mit Ronald Pofalla. Das ist eine Frage des politischen Anstands. Und der ist zwischenzeitlich auf der Strecke geblieben. Unter Schroeder schon. Vor allem aber unter Merkel. Man bedient sich heute ungenierter denn je. Anschlußverwendung eben. Kann man hoffen, daß die politische Klasse zurückfindet zu politischem Anstand?

Autoritäre Machtentfaltung

Gertrud Höhler, einst Literaturprofessorin und Beraterin Helmut Kohls, hat in der  Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine schonungslose Analyse des Machtsystems der Kanzlerin veröffentlicht, einen Vorabdruck aus ihrem demnächst erscheinenden Buch „Die Patin. Wie Angela Merkel Deutschland umbaut“. Hier einige Ausschnitte:

“Die Stabilität des Kontinents wird nur noch über Geldwerte definiert. Der Irrtum am Start der Währungsunion wird damit wieder handlungsleitend; das geheime Motto lautet: Wir kaufen Europa. (…) Mit Angela Merkel ist eine Frage auf die politische Tagesordnung gekommen, mit der die CDU einstweilen nur intuitiv, nervös und im Kern fassungslos umgeht: Es ist die Frage, ob der Wertekonsens, den alle bürgerlichen Parteien teilen, seine Gültigkeit verliert zugunsten situativer Unberechenbarkeit aller Akteure und Motive. Dass der Konflikt nicht ausgetragen wird, nicht jetzt, hat mit seinem grundsätzlichen Gewicht zu tun. Die Kanzlerin arbeitet daran, dass er sich von selbst erledigen werde, durch Gewöhnung an das neue, utilitaristische Wertekonzept. (…) Angela Merkel hat das Konzept von der überparteilichen, übernationalen Kanzlerin entwickelt. Sie führt ihr Amt wie einen Gemischtwarenladen: Produkte, die nicht gehen, werden aus dem Angebot genommen. Produkte der Konkurrenz, die besser laufen, werden kopiert. Die Kanzlerin sieht sich als Anbieterin in einem Meinungsmarkt, wo die Kundengunst über den Marktwert der Ware entscheidet. Was Politik anbietet, sind aber nicht Waren. Es sind Entwürfe für Lebensqualität, soziale Sicherheit und Entfaltungsrechte. In den Entwürfen der Parteien werden nicht einfach Kundenbedürfnisse erfüllt und Konsumversprechen abgeliefert. Politische Angebote in der Demokratie beziehen sich immer auf den Kanon von Zusagen, die unsere Verfassung den Bürgern macht. Dieser Kanon beginnt mit dem höchsten virtuellen Gut, das nie in Geldwerten taxiert werden darf: der Würde des Menschen. Wer Normen und Werte einer demokratischen Gesellschaft zur Manövriermasse macht wie Angela Merkel, der arbeitet am Zerfall der Demokratie. Wer die Alarmzeichen dieses Politikstils abstellen möchte, spricht gern vom „moderierenden“ Führungsstil der Kanzlerin. Sie moderiert den Wandel, der ohnehin abläuft, heißt es in solchen Entdramatisierungsgesprächen. Merkel sorge eher für einen softeren Verlauf der Abschiedsparty von dem Werteballast der bürgerlichen Mitte. (…)  Wertemanagement à la Merkel ist ein Business für Erfolgreiche, die sich entschieden haben: Interessenlage schlägt Wertesystem. Immer. (…) Auf leisen Sohlen verlässt die Kanzlerin unseren Grundwertekonsens. Da sie die Macht hat, ist das doch mehr als nur ein Moderationserfolg. Mit Angela Merkel kommt der Typus des Ego-Politikers auf die politische Bühne. Die seien doch alle mit einem Riesenego unterwegs, mag mancher jetzt sagen. Aber die Ego-Politikerin Merkel macht den Unterschied. Keiner ihrer Kollegen und Vorgänger hat das Tableau seiner Themen so entschieden unter eine einzige Prämisse gestellt – den persönlichen Machtzuwachs – wie Angela Merkel. Keiner hat so zynisch die oppositionellen Lager ausgeräumt wie sie, keiner hat es zu einem Image gebracht, das die deutsche Kanzlerin begleitet: Alles ist möglich. Nichts ist ausgeschlossen. Die Ego-Karriere rangiert in jedem Fall vor dem Wohl des Landes und vor Europa. Noch kein deutscher Staatschef hat so kompromisslos die Rangfolge seiner politischen Ziele immer wieder umgeworfen und neu sortiert – um den einen Mittelpunkt: das eigene Ich. Ein so egomanischer Politikstil lässt sich nur durchhalten, wenn er schwer lesbar bleibt. Die Kanzlerin der Volten hat ihr Publikum und ihre Entourage an unverhoffte Richtungswechsel gewöhnt. Keiner ihrer Mitarbeiter würde eine Wette wagen, wenn es darum geht, wo man die Kanzlerin morgen antrifft. (…) Das System M etabliert eine leise Variante autoritärer Machtentfaltung, die Deutschland so noch nicht kannte. Die Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts boten andere Erfahrungen, was den politischen Stil angeht – obwohl die Anklänge nicht zu leugnen sind: die Marginalisierung der Parteien, der Themenmix aus enteigneten Kernbotschaften anderer Lager in der Hand der Regentin; ihre Nonchalance im Umgang mit dem Parlament, mit Verfassungsgarantien, Rechtsnormen und ethischen Standards. Der Anspruch, das deutsche „Bremssystem“, eine Mischung aus Präpotenz und Symbolpolitik, zum Durchgriff auf das Budgetrecht beliebig vieler europäischer Länder auszubauen, ist wieder eine von den geräuschlosen Sprengungen, die Umsturz als Regierungsprivileg durchsetzen. (…) No commitment ist das Motto. Kein Bekenntnis zu Deutschland oder Europa, nur ein bisschen mehr statt weniger von beiden: eben ein deutsches Europa. Keine Leidenschaft, kein Credo, kein Bekenntnis. Sie alle lassen wir hinter uns in der Alten Welt. Kein mission statement, das die Größe des Projektes verrät. Es kommt „wie ein Dieb in der Nacht“. (…) Wo Markenkerne entwendet und neu kombiniert werden, kann auch die Partei, aus der die Täterin ihre Jagdausflüge unternimmt, die CDU, nicht mehr auf Patentschutz für ihre Identität bestehen. Der Allparteienstaat hat lauter gesichtslose Parteien. Bald wird sich keine von ihnen mehr über Gesichtsverluste beklagen.  (…) Über Angela Merkels visionäres Profil wissen wir nichts. Sie arbeitet seit ihrem Auftreten an ihrer Flexibilität; wer sie auf eine Idee festlegen will, muss scheitern. Für sie hat sich die Abstinenz gegenüber Ideen und Visionen als Karriere-Treibsatz erwiesen. Das Fazit: In Deutschland kann man seit der Einigung politisch an die Spitze rücken, wenn man als Asket an allen Vorgaben vorbeizieht, von denen sich die Mitspieler aus der alten Westwelt aufhalten lassen: Rechtsnormen und Verfassungswerte, Verträge und Wettbewerbsfreiheit, ethische Standards und moralischer Grundkonsens.”