Kategorie: Fundsachen

“Schöne und schmerzliche Stunden”

Die närrische Zeit ist vorbei und am Aschermittwoch reflektiere ich die Intensität der letzten Tage. Am Freitag war ich in Wasungen zur Festveranstaltung „500 Jahre Wasunger Karneval“. Eine stolze Zahl, ein rundes Jubiläum und ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Karnevalstraditionen in Thüringen viel älter sind als das, was man üblicherweise in Westdeutschland zu bieten hat. (…)

Andererseits war der Rosenmontag auch geprägt durch Menschen, die offenkundig in der Masse der Karnevalisten auch mit Hass und Frust unterwegs waren. An einem Ort zeigte mir ein junger Familienvater, der mit Frau und Baby als Zaungast dort stand mit eindeutigen Gesten, wie sehr er mich offensichtlich höchstpersönlich verachtet. An einer anderen Karnevalsveranstaltung versuchten die sog. „Montagsdemonstranten“, die wie üblich weder angemeldet waren noch einen Verantwortlichen aufzuweisen hatten, die Festveranstaltung für ihre Anliegen zu instrumentalisieren und meine angekündigte Anwesenheit zu benutzen, um mir ihren Missmut oder auch mittlerweile ihre Verachtung gegen jedwede Form von Politik zu übermitteln.

Der intellektuelle Tiefpunkt war eine Gruppe von sechs oder sieben jungen Männern, die offensichtlich sehr gezielt am Rande des närrischen Lindwurms warteten, bis sie meiner ansichtig wurden, um mir ihren gereimten Hass entgegen zu schleudern. Mehrfach skandierten sie sehr laut und deutlich an mich adressiert:

„Schau schau – du dumme Sau!
Wir vergewaltigen jetzt deine Frau –
und wenn du keine Frau hast – bist du ne dumme Sau –
und dann hau‘n wir dir halt nur deine dumme Fresse blau!“

Während drum herum ganz viele Familien mit Kindern standen, die offensichtlich nicht genau registriert haben, was diese Gruppe von jungen Kerlen von sich gab, schaute ich mir diese Gesichter an und dachte: „Ja, bislang seid ihr mir auf dem was heute X heißt in den sogenannten sozialen Medien anonym begegnet, heute tragt ihr euren Hass mit offenem Gesicht zur Schau.“ Was früher als Twitter eine fröhliche Zwitschergemeinschaft begann, ist heute ein vor Hass triefendes Medium ohne wirksames Community Management oder aktiven Schutz vor Hass und Hetze. Ich habe die Befürchtung, dass aus diesen Worten auch Taten werden können. Alle Demokraten sollten mutig dagegenstehen.

Das war schon bei der wunderbaren Demonstration in Greiz zu spüren, als ich mit rund 800 Menschen gemeinsam für ein friedliches und buntes Greiz demonstriert habe. Dass dort auf der sogenannten Gegendemo ein Nazi davon faselte, dass wir alles nur bezahlte Demonstranten seien und wir alle nach Buchenwald ins KZ gehörten, der sich nicht scheute, es mit Gesicht in die Kamera zu sagen, macht deutlich, wie aus der Anonymität heraus Worte sich immer mehr auch zu Taten materialisieren. Die Schritte werden immer kürzer und das Überbieten in Hass und Hetze immer massiver.

Gemessen allerdings an den zehntausenden Demonstranten, die zurzeit in Thüringen ihr Gesicht zeigen gegen braunen Ungeist und die Klarheit, mit der ich die ganzen Karnevalveranstaltungen erlebt habe, die sich deutlich gegen einen solchen Ungeist ausgesprochen und positioniert haben und die wunderbaren Erfahrungen, die ich persönlich sammeln konnte, als Menschen mich einfach in den Arm genommen haben und mir Kraft zugesprochen haben, das war dann wieder das Gefühl, in einem Land zu leben, in dem wir einerseits die Krisen bewältigen müssen, aber andererseits genügend Kraft und Solidarität vorhanden ist, um dieses Land nicht vor die sprichwörtlichen Hunde gehen zu lassen. (…)
Karneval muss man mögen, um sich auf ihn einlassen zu können. (…)

Bodo Ramelow, thüringischer Ministerpräsident, auf seinem Blog, Eintrag unter Tagebuch am fünfzehnten Februar

“Willkommen bei den politischen Alternativen”

Da einseitige Kritik an etablierter und mit Restverstand wählbarer Politik oft schief geht, sei anekdotisch erwähnt, dass seitens der AfD die sachdienlichen Vorschläge kommen, der Staat müsse mit weniger Steuern auskommen, russische geostrategische „Energiesubventionen“ wieder errichten, diese in Form fossiler Kraftstoffe weiter verbrennen, ein Drittel unserer Arbeitskräfte ausweisen, uns kulturell komplett isolieren und durch einen EU-Austritt ohnehin alles viel besser machen. Noch kürzer ist diese neue, einen singulären Personennamen tragende, sich zugleich aber als „Bündnis“ bezeichnende Partei, deren wesentliche Kernbotschaft lautet, man müsse alles friedlicher, besser, gerechter und wohlständiger machen. Zu lästigen Umsetzungsdetails ist das Bündnis bisher nicht gekommen, aber man kann sich immerhin vorstellen, dabei mit der AfD zusammenzuarbeiten. Dystopie plus bunte Knete ist also das Gesamtangebot. Willkommen bei den politischen Alternativen.

Dirk Specht

Ein Fundstück

Nur gefunden. Ich weiß nichts. Nicht den Namen der Künstlerin. Nicht den des Stücks. Nicht den des Instruments. Nicht den des Orts. Nichts. Aber ich finde es gut.

Nachtrag: Ludmilla Pfefferminz hat mir auf die Sprünge geholfen.
“Farah Fersi ist eine tunesische Künstlerin, Musikerin und Komponistin, die für ihre Virtuosität auf dem Kanun, einem traditionellen Saiteninstrument aus dem Nahen Osten, bekannt ist. Ihre musikalische Reise begann am Konservatorium, wo sie eine tiefe Leidenschaft für den Kanun entwickelte. Farah lässt sich von der reichen kulturellen Vielfalt ihrer Umgebung inspirieren und verbindet auf kreative Weise arabische Weltmusik mit diesem traditionellen Instrument.”

Vertrauen in die Wahrheit

Michel de Montaigne schrieb – lange vor der parlamentarischen Demokratie – dass unser Austausch und unsere Wahrheitsfindung auf dem Vertrauen in die Wahrheit der Aussagen des anderen beruhen. Die Lüge, folgerte er, verrät die gegenseitige Verständigung und somit das Wichtigste, das wir Menschen haben. Eine Republik beruht auf dem Austausch von Argumenten im öffentlichen Diskurs. Darum hat eine Partei, deren Programm eine Lüge ist, dort nichts verloren.

Nils Minkmar, Der Siebte Tag. Aufgewacht

Mit Stolz scheitern

In einer Zeit, in der Selbstliebe, Selbstakzeptanz und die permanente Glückssuche auf keiner Liste mit Vorsätzen fürs neue Jahr fehlen dürfen, wo die stetige Selbstoptimierung Pflicht ist und die sozialen Medien voll von faltenfreiem Frohsinn sind, gerät es zunehmend in Vergessenheit, dass das Leben in weiten Teilen anstrengend, frustrierend und ausgesprochen langweilig ist. Wir würden alle eine Menge Geld, Zeit und Nerven sparen, wenn wir uns klarmachten, dass Probleme, Minderwertigkeitsgefühle, Verschleiß und Katastrophen zum Leben gehören wie Stoffwechsel und Ohrenschmalz. Statt stolz zu scheitern und uns als unperfekte Menschlein mit Schwächen, Ängsten und manchmal sehr schlechter Laune zu akzeptieren, wird der Bauch eingezogen, werden die Mundwinkel zu einem unechten Lächeln gekrümmt, auf den Lippen stets ein heiterer Superlativ. “Danke, bestens!” oder “Es könnte nicht besser laufen.” Die Pose des geglückten Lebens. Die Fassade der makellosen Existenz. Die Diktatur des Glücks. Sie ist mir zuwider. (…)

Ich habe eingesehen, dass Glück ein breitbeiniger Begriff für Angeber ist, eine verwöhnte Anspruchshaltung, die in der Regel direkt ins hausgemachte Unglück führt. (…)

Da, wo ich jetzt stehe, in der Mitte meines Lebens, wird einem zum Glück vieles ziemlich egal. Mir ist kaum noch etwas peinlich. Ich gefalle lieber mir als anderen. Ich glaube nicht mehr alles, was ich denke. Ich entschuldige mich und übernehme Verantwortung. Ich mache mich nicht mehr kleiner, als ich bin, damit andere sich größer fühlen können, als sie sind. (…)

Grau werdend bin ich und vielfarbig verblühend, gezeichnet, mehrmals gefaltet, lebenserfahren und meist ein wenig müde. Mit Schlupflidern und Zahnkronen, Besenreisern und Hängehintern, voller Narben und voller Demut. Mit vielen Antworten und noch mehr Fragen. Ich liebe den Moment. Mein Leben ist gut. Nicht, weil es schön ist. Sondern weil es bunt, dunkel und hell, reich und erbärmlich, beängstigend, befremdlich, einzigartig, quälend und großartig ist. Ich sehe in den Spiegel, ich erkenne mich und denke: “Die Alte da, die gefällt mir.”

Ildikó von Kürthy, Die Pose des geglückten Lebens, in: Süddeutsche Zeitung vom neunundzwanzigsten Dezember Zweitausenddreiundzwanzig