Tag: 2. November 2015

Extrem bunt, vielstimmig, heterogen

Vielleicht sollte ich daher einmal klären, was ich meine, wenn ich von »den Linken im weitesten Sinne« spreche: Leute, die aus einer gewissen Grundüberzeugung heraus linke Parteien wählen, seien das Sozialdemokraten, Grüne, andere »linkere« Linksparteien; Leute, die sich für eine solidarische Gesellschaft einsetzen, seien das Elterninitiativen, die etwas für gleichberechtigte Bildung tun, oder auch christliche Caritas-Funktionäre, die Flüchtlingen helfen; Antifa-Demonstranten genauso wie viele Gewerkschaftsvertrauensleute im Betrieb; Leute, die alle paar Jahre an einer Demonstration teilnehmen genauso wie Leute, die das jede Woche tun; Leute, die für die Freiheit der Kunst sind und gegen einen Konformitätszwang, die glauben, dass Aufklärung etwas bewirken kann, die Internationalität jedenfalls anziehender finden als Nationalismus und Rassismus, und die im Allgemeinen finden, dass Geld und Karriere nicht das Wichtigste im Leben sind und dass in einer guten Gesellschaft jeder und jede das Recht und die Chance haben sollte, seine Talente zu entwickeln; Leute, die sich über einen Wahlsieg eines schwarzen Demokraten bei den US-Präsidentschaftswahlen mehr freuen als über den Wahlsieg eines rassistischen Republikaners und Leute, die Sexismus für ein tatsächliches Problem halten und nicht nur für eine Erfindung von Emanzen im »Genderwahn«, wie das die Nichtlinken nennen würden. Kurzum: Dazu gehören für mich »linkere« und politisch entschiedene Linke genauso wie Normalos aus der Mitte, die etwas links »ticken«. Diese Linke ist natürlich extrem bunt und heterogen und man wird zu jeder Frage genügend Leute finden, die in wichtigen Details unterschiedlicher Meinung sind –aber es gibt auch genügend Überzeugungen, die von einer überwältigenden Mehrheit dieser vielstimmigen Linken geteilt werden; ehrlich gesagt denke ich, dass die überwiegende Mehrheit bei sehr vielen Themen verblüffend ähnliche Meinungen äußern würde, wenn wir sie dazu brächten, einmal gemeinsam darüber zu reden.

Robert Misik, Was Linke denken

Gärten oder Kerker

Und jedes Wort, das er redet, wandelt die Welt, worin er sich bewegt, wandelt ihn selbst und seinen Ort in dieser Welt. Darum ist nichts gleichgültig an der Sprache, und nichts so wesentlich wie die facon de parler. (Sprechweise, Weise des Redens, W.H.) Der Verderb der Sprache ist der Verderb des Menschen. Seien wir auf der Hut! Worte und Sätze können ebensowohl Gärten wie Kerker sein, in die wir, redend, uns selbst einsperren, und die Bestimmung, Sprache sei allein die Gabe des Menschen oder eine menschliche Gabe, bietet keine Sicherheit. Denn der Begriff des Menschen schließt die Möglichkeit (und Wirklichkeit) des Unmenschen in sich; im anderen Falle ist er ein unzulänglicher Begriff, und eben daran können und müssen wir ihn prüfen, da wir das Unmenschliche kennen.

Dolf SternbergerAus dem Wörterbuch des Unmenschen