Monat: Juli 2015

Gefährliche Mischung

„Es hat sich eine gefährliche Mischung aus geschürten Ängsten, persönlichem Scheitern und des Verdrusses an demokratischen Prozeduren zusammengebraut, die uns nicht ruhig lassen darf.“

Jochen Bohl, evangelischer Landesbischof in Sachsen, zitiert von Ulrich Wolf in: ders., Häkelmütze im Pegida-Land, in: Communicatio Socialis, Zeitschrift für Medienethik und Kommunikation in Kirche und Gesellschaft, zitiert nach: Blog von Stefan Niggemeier

Stiglitz: So würde ich beim Referendum votieren

Das zunehmende Crescendo erbitterten Gezänks innerhalb Europas könnte Aussenstehenden als das unvermeidliche Resultat der bitteren Endphase der Verhandlungen zwischen Griechenland und seinen Gläubigern erscheinen. In Wahrheit lassen die europäischen Führungen endlich die wahre Beschaffenheit des laufenden Schuldenstreits erkennen, und die Antwort ist nicht angenehm: Viel mehr als um Geld und Wirtschaft geht es um Macht und Demokratie.

Natürlich war die Wirtschaftsstrategie, die dem Griechenland von der «Troika» (Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds) auferlegten Programm zugrunde lag, eine Katastrophe; sie führte zu einem 25-prozentigen Rückgang der Wirtschaftsleistung des Landes. Mir fällt kein Fall ein, in dem eine Depression jemals derart vorsätzlich herbeigeführt wurde und derart katastrophale Folgen hatte: Die Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland etwa liegt inzwischen bei über 60 Prozent.

Alarmierend, dass die Troika keine Verantwortung übernimmt

Es ist alarmierend, dass die Troika sich weigert, irgendeine Verantwortung hierfür zu übernehmen oder zuzugeben, wie falsch ihre Prognosen oder Modelle lagen. Noch überraschender freilich ist, dass Europas Regierungen aus all dem noch nicht einmal etwas gelernt haben. Die Troika verlangt selbst heute noch, dass Griechenland bis 2018 einen primären Haushaltsüberschuss (Überschuss vor Zinszahlungen) von 3,5 Prozent vom BIP erreichen müsse.

Ökonomen weltweit haben dieses Ziel als übertrieben drakonisch kritisiert, da jeder Versuch, es zu erfüllen, zwangsläufig zu einem weiteren Abschwung führen würde. Selbst wenn die griechischen Schulden auf eine Weise umstrukturiert werden sollten, wie sie heute nicht vorstellbar ist, wird das Land in der Depression verharren, falls die Wähler sich in dem kurzfristig für dieses Wochenende angesetzten Referendum dem Ziel der Troika verpflichten sollten.

Griechen haben in fünf Jahren viel erreicht

Was die Umwandlung eines grossen Primärdefizits in einen Überschuss angeht, so haben wenige Länder auch nur annähernd bewerkstelligt, was die Griechen im Verlaufe der letzten fünf Jahre erreicht haben. Und obwohl die Kosten, berechnet nach menschlichem Leid, enorm hoch waren, ist die griechische Regierung den Forderungen der Gläubiger in ihrem jüngsten Vorschlag ein grosses Stück entgegengekommen.

Wir sollten uns über Eines klar sein: Von den enormen Summen, die Griechenland als Kredite erhalten hat, ist fast nichts tatsächlich auch nach Griechenland gegangen. Dieses Geld wurde verwendet, um die Gläubiger aus dem privaten Sektor auszuzahlen, darunter deutsche und französische Banken. Griechenland hat lediglich Almosen erhalten, aber einen hohen Preis gezahlt, um die Bankensysteme dieser Länder zu retten. Der IWF und die anderen «offiziellen» Kreditgeber brauchen das Geld, das Griechenland derzeit abverlangt wird, nicht. Ginge alles weiter seinen normalen Gang, würde das erhaltene Geld aller Voraussicht nach doch wieder als Kredit nach Griechenland zurückfliessen.

Geht es beim europäischen Projekt nicht um Demokratie?

Doch um es noch einmal zu sagen: Es geht hier nicht um das Geld. Es geht darum, «Fristen» zu nutzen, um Griechenland zur Kapitulation und zur Akzeptanz des Unannehmbaren zu zwingen – nicht nur Sparmassnahmen, sondern auch anderen regressiven und straforientierten politischen Vorgaben.

Warum aber tut Europa das? Warum widersetzen sich die Führer der Europäischen Union dem Referendum und weigern sich sogar, die Frist für die Zahlung der nächsten Rate Griechenlands an den IWF um ein paar Tage zu verlängern? Geht es denn beim europäischen Projekt nicht um Demokratie?

Im Januar stimmten die griechischen Bürger für eine Regierung, die sich dazu bekannte, die Austerität zu beenden. Wollte die Regierung einfach nur ihr Wahlkampfversprechen einlösen, hätte sie den Vorschlag bereits abgelehnt. Doch sie wollte den Griechen eine Chance geben, sich bei diesem für das künftige Wohl ihres Landes so kritischen Thema einzubringen.

Die Schweden sagten nein

Diese Sorge um öffentliche Legitimität ist unvereinbar mit der Politik der Eurozone, die nie ein besonders demokratisches Projekt war. Die meisten Regierungen der Mitgliedsstaaten fragten ihre Bevölkerungen nicht nach ihrer Zustimmung zur Überantwortung ihrer geldpolitischen Souveränität an die EZB. Als die schwedische Regierung es tat, sagten die Schweden nein.

Sie verstanden, dass die Arbeitslosigkeit steigen würde, wenn die Geldpolitik des Landes durch eine Zentralbank festgelegt würde, die sich kompromisslos auf die Inflation konzentrierte (und auch, dass damit der Finanzstabilität keine hinreichende Aufmerksamkeit geschenkt werden würde). Die Volkswirtschaft würde leiden, weil das der Eurozone zugrunde liegende Wirtschaftsmodell auf Machtbeziehungen beruhte, die die Arbeitnehmer benachteiligten.

Ein «Ja» hätte eine endlose Depression zur Folge

Und tatsächlich ist, was wir heute erleben – 16 Jahre, nachdem die Eurozone diese Beziehungen institutionalisierte –, das Gegenteil von Demokratie: Viele führende europäische Politiker wünschen sich das Ende der linksgerichteten Regierung von Ministerpräsident Alexis Tsipras. Schliesslich ist es extrem unbequem, in Griechenland eine Regierung sitzen zu haben, die sich der Art von Politik, die so viel zur Steigerung der Ungleichheit in so vielen hochentwickelten Ländern beigetragen hat, derart widersetzt, und die sich dafür engagiert, der ungezügelten Macht der Reichen Grenzen zu setzen. Sie scheinen zu glauben, dass sie letztlich den Sturz der griechischen Regierung herbeiführen können, indem sie sie durch Druck dazu bewegen, eine Übereinkunft zu akzeptieren, die ihrem Wählerauftrag widerspricht.

Es ist schwer, den Griechen einen Rat zu geben, wie sie am 5. Juli wählen sollten. Keine der beiden Alternativen – Annahme oder Ablehnung der Bedingungen der Troika – wird einfach, und beide sind mit enormen Risiken behaftet. Ein «Ja» hätte eine praktisch endlose Depression zur Folge.

Ich weiss, wie ich abstimmen würde

Vielleicht könnte ein ausgelaugtes Griechenland – das all seine Vermögenswerte verramscht hat und dessen intelligente junge Leute ausgewandert sind – irgendwann seine Schulden erlassen bekommen; vielleicht würde Griechenland, nachdem es zu einem Land mittleren Einkommens geschrumpft ist, irgendwann Unterstützung von der Weltbank erhalten. All das könnte eventuell im kommenden Jahrzehnt passieren, oder vielleicht in dem Jahrzehnt danach.

Dagegen liesse ein «Nein» zumindest die Möglichkeit offen, dass Griechenland mit seiner starken demokratischen Tradition sein Schicksal in eigene Hände nehmen könnte. Die Griechen könnten damit die Chance erwirken, eine Zukunft zu gestalten, die vielleicht nicht so wohlhabend wäre wie in der Vergangenheit, aber deutlich hoffnungsvoller als die unzumutbare Folter der Gegenwart.

Ich weiss, wie ich abstimmen würde.

Joseph E. Stiglitz,  Nobelpreisträger für Ökonomie und Professor an der Columbia University, in einem Beitrag für die schweizerische Handelszeitung vom dreißigsten Juni Zweitausendundfünfzehn

Ein Umverteilungsprogramm

Die neue griechische Regierung hat drei Dinge bewirkt. Sie hat erstens festgestellt, dass fünf Jahre Austeritätspolitik gescheitert sind: Einbruch der Wirtschaftsleistung, Vervielfachung von Arbeitslosigkeit, weitere Explosion der Staatsschulden. Zweitens konnte die Regierung plausibel nachweisen, dass sie mit dem Klientelwesen und der absurden Steuerpolitik im Land nichts zu tun hatte. Sie war die Garantie für einen Neuanfang. Und drittens hat diese Regierung auf die Realität eines sehr schmerzhaften politischen Konfliktes aufmerksam gemacht, nämlich: Wie verhält man sich in einer Situation, in der auf der einen Seite Kapitalflucht aufgrund der Gläubigerinteressen droht und es auf der anderen Seite einen klaren Wählerauftrag gibt, die Politik der Kürzungen nicht noch weiter zu treiben? Wie also verhält man sich angesichts der kontroversen Interessen von Finanzpublikum und Wahlpublikum? (…) Die Geldgeber haben schon seit fünf Jahren Reformen gefordert und mit den meisten Forderungen keinen Erfolg gehabt. Das private Lohnniveau ist gesunken, Mindestlöhne wurden abgesenkt, Renten mehrmals gekürzt, Staatsvermögen verscherbelt. Als dann die linke Regierung nach dem Sinn dieser Maßnahmen fragte und Alternativen anbot – vom Schuldenschnitt über eine europäische Schuldenkonferenz bis zu Investitions- und Wachstumsprogrammen -, platzte den Eurodogmatikern insbesondere in Deutschland der Kragen. (…) In Griechenland herrschen 25 bis 28 Prozent Arbeitslosigkeit – Werte, die in Deutschland einst zum Ende der Weimarer Republik führten. Was man jetzt in Griechenland verordnete, ist gemanagter Niedergang, “managed decline”. Der Begriff stammt aus der Zeit, als die Liberalisierung der Finanzmärkte eingeleitet wurde. Berater Margaret Thatchers haben ihn geprägt, um zu beschreiben, wie man ganze Industrieregionen samt der Bevölkerung zugrunde gehen lassen kann, ohne dass es den Rest des Landes ernsthaft tangiert. Ein Umverteilungsprogramm.

Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl in einem Interview der Süddeutschen Zeitung vom zweiten Juli Zweitausendundfünfzehn

Zumutung

Die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens ist die Sprache.  Und wenn ein Satz nun lautet: “Durch diverse Äußerungen (…) ist ein Ausmaß erreicht worden, das wir unseren (…) Bürgern (…) nicht länger zumuten können“, dann muß man sagen, daß es sich nicht um einen Satz handelt, sondern um eine Zumutung. Nochmal: Durch diverse Äußerungen ist ein Ausmaß erreicht worden, das wir unseren Bürgern nicht zumuten können. Ein Nichtgedanke. Eine schiere Beleidigung jeden Lesers. Der Autor dieses kruden Satzes (ist es überhaupt ein Satz?) ist Andreas Müßener, Stadtverordneter der AfD in Wermelskirchen. Als Politiker ebenso begabt wie als Autor. Er hat die Fraktion der AfD im Rat verlassen und sie damit gesprengt sowie den Wählerwillen auf den Kopf gestellt. Ein eitler junger Mann, der noch nichts zuwege gebracht hat und durch keinerlei bemerkenswerte Initiative in Rat oder Öffentlichkeit der Stadt aufgefallen wäre, behält gegen den Wählerwillen das Mandat. Ein Mandatsräuber. Ein Mandatsräuber zudem, für den die deutsche Sprache eine enorme Herausforderung darstellt. (Müßeners Hervorbringung ist in seineScreenshot_04_07_15_12_01m Blog zu lesen, zu dem ich indes nicht verlinken möchte. Ich habe mich mit einer Bildschirmkopie des Schwalls zufrieden gegeben.)

 

Nachtrag: Heute legt der Stadtrat Müßener in seinem Blog noch einmal nach. Eine Rechtfertigungsuada für sein von allen Seiten kritisiertes Verhalten des Mandatsklaus. Von allen Seiten? Natürlich nicht. Die WNK, zuvörderst ihr Großmeister und Fraktionschef Henning Rehse, die WNK hat noch keinen Ton zum Müßenerschen Mandatsraub hören lassen. Kein Wunder, haben sie doch seinerzeit vom Mandatsklau profitiert, als der ehemalige Ratsherr Güntermann und seine Frau die FDP verlassen und beide bei der WNK angeheuert haben. Da bleibt nur abzuwarten, wann Henning Rehse den Neueinkauf Andreas Müßener für sein WNK-Team vermelden kann. Ach ja, der Ratsherr schwurbelt auch heute munter weiter. Da müssen, um nur ein Beispiel zu nennen, “Zustände in der Öffentlichkeit ausgetragen” werden. Die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens ist die Sprache. In diesem Fall zeugt die Sprache von der unmittelbaren gedanklichen Wirrnis eines Ratsherrn, der sich um Kopf und Kragen schreibt und schwurbelt.

Voll und ganz Grieche

»Jeder Mensch von Kultur hat zwei Vaterländer: das seine – und Frankreich.« Dieser Satz stammte von Thomas Jefferson und drückte den tiefen Respekt vor der Kultur der Aufklärung aus, die Jefferson (der lange Zeit als Diplomat in Paris weilte) sehr befürwortete. Heute kann man sagen, dass jeder Mensch von Aufklärung auch eine griechische Seele in sich tragen sollte. Wer möchte, dass diese neoliberale Brachialpolitik vor ihren Scherben steht, der ist am Wochenende voll und ganz Grieche.

Roberto J. De Lapuente, freier Publizist  in seinem Blog ad sinistram. Dort befasst er sich mit Politik, Sprach- und Gesellschaftskritik.