Tag: 23. Juni 2015

Defizite

Im Schatten der Schuldenkrise haben sich die öffentlichen Diskurse so re-nationalisiert, dass die Idee der europäischen Solidarität zunehmend verkümmert zu bloßem Lobbyismus für nationale Gläubiger. Nur so erklärt sich der wachsende Gleichmut gegenüber den Marginalisierten anderswo, denen, die ihre Arbeit verloren haben, deren Wohnungen zwangsgeräumt wurden, die über keine Krankenversicherung mehr verfügen – als seien dies lediglich ökonomische Verwerfungen an der europäischen Peripherie und nicht soziale Risse im Zentrum des demokratischen Selbstverständnisses Europas. Vielleicht liegt hierin eine der Chancen der Griechenland-Krise: Dass sie sichtbar macht, wie die europäischen Versprechen auf Partizipation, auf Inklusion und auf demokratische Verfahren der Selbstbestimmung ausgehöhlt werden. Gebraucht werden womöglich nicht nur Mechanismen, die Griechenland aus seinem ökonomischen Dilemma lösen, sondern auch ein politischer New Deal, der die demokratischen Defizite Europas korrigiert.

Carolin Emcke, Defizit, in: Süddeutsche Zeitung vom zwanzigsten Juni Zweitausendundfünfzehn