Monat: Mai 2015

Selbstkritische Geschichtskultur

Heinrich August Winkler, Historiker, Publizist, vielfach geehrt, hat heute im Deutschen Bundestag eine bemerkenswerte Rede zum siebzigsten Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges am achten Mai Neunzehnhundertfünfundvierzig gehalten.

Herr Bundespräsident,
Herr Präsident des Deutschen Bundestages,
Frau Bundeskanzlerin,
Herr Präsident des Bundesrates,
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts,
meine Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren!

In der deutschen Geschichte gibt es keine tiefere Zäsur als den Tag, dessen 70. Wiederkehr wir heute gedenken: den 8. Mai 1945. Er markiert das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa, den Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes, das diesen Krieg entfesselt hatte, und das Ende des ein Dreivierteljahrhundert zuvor von Bismarck gegründeten Deutschen Reiches. Zwölf Jahre lang hatten die Nationalsozialisten frenetisch die nationale Einheit der Deutschen beschworen. Als ihre Herrschaft in einem Inferno ohnegleichen unterging, war ungewiss, ob die Deutschen jemals wieder in einem einheitlichen Staat zusammenleben würden.

In seiner historischen Rede zum 40. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches hat der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Deutschen gemahnt, den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 zu trennen – dem Tag, an dem Reichspräsident von Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannte. Den 8. Mai 1945 aber gelte es, „als das Ende eines Irrwegs der deutschen Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg“.

Der Irrweg, von dem Weizsäcker sprach, hatte nicht erst 1933 begonnen. Großen Teilen der deutschen Eliten, ja der Gesellschaft insgesamt galt die erste deutsche Demokratie, die Republik von Weimar, als ein Produkt der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg, als die Staatsform der westlichen Siegermächte, als ein undeutsches System. Im Ersten Weltkrieg hatten bekannte Professoren und Publizisten den Ideen der Französischen Revolution von 1789, also Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die deutschen „Ideen von 1914“ gegenübergestellt: die Verherrlichung eines starken, auf das Militär gestützten Staates, der „Volksgemeinschaft“ und eines angeblich „deutschen Sozialismus“. Als die parlamentarische Demokratie von Weimar im Frühjahr 1930 gescheitert war und Deutschland wenig später zu einem halbautoritären Präsidialregime überging, konnte Hitler einerseits erfolgreich an die verbreiteten Ressentiments gegenüber der westlichen Demokratie appellieren und andererseits eine demokratische Errungenschaft des Bismarckreiches nutzen, die jetzt weithin ihrer politischen Wirkung beraubt war: das allgemeine gleiche Reichstagswahlrecht, das seit der Revolution von 1918/19 nicht mehr nur den Männern, sondern auch den Frauen zustand.

Die Wahlerfolge der Nationalsozialisten in der Endphase der Weimarer Republik sind ohne die lange Vorgeschichte der deutschen Vorbehalte gegenüber der westlichen Demokratie nicht zu erklären. Dasselbe gilt für die rasch wachsende Popularität, derer Hitler sich nach seiner sogenannten „Machtergreifung“ erfreute. Diese Popularität ging so weit, dass Hitler nach den Worten des britischen Historikers Ian Kershaw spätestens 1936 selbst zum „Gläubigen seines Mythos“ wurde. Im Zweiten Weltkrieg wurde der „Führermythos“ zwar durch die Rückschläge im Krieg gegen die Sowjetunion seit dem Winter 1941/42 und dann vor allem infolge der Niederlage von Stalingrad Ende Januar 1943 nachhaltig erschüttert, aber er erlosch nicht. Nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 erlebte dieser Mythos sogar vorübergehend eine gewisse Renaissance. Vielleicht, so glaubten nun viele, war Hitler wirklich mit der „Vorsehung“ im Bunde und Deutschland nur durch ihn zu retten.

Der deutsche Philosoph Ernst Cassirer, der im April 1945, wenige Wochen vor Kriegsende, im amerikanischen Exil starb, deutete in seiner letzten Schrift „Der Mythus des Staates“ Hitlers politische Karriere als Triumph des Mythos über die Vernunft und diesen Triumph als Folge einer tiefen Krise. „In der Politik leben wir immer auf vulkanischem Boden. Wir müssen auf abrupte Konvulsionen und Ausbrüche vorbereitet sein. In allen kritischen Augenblicken des sozialen Lebens sind die rationalen Kräfte, die dem Wiedererwachen der alten mythischen Vorstellungen Widerstand leisten, ihrer selbst nicht mehr sicher. In diesen Momenten ist die Zeit für den Mythus wieder gekommen. Denn der Mythus ist nicht wirklich besiegt und unterdrückt worden. Er ist immer da, versteckt im Dunkel auf seine Stunde und Gelegenheit wartend. Diese Stunde kommt, sobald die bindenden Kräfte im sozialen Leben der Menschen aus dem einen oder anderen Grunde ihre Kraft verlieren und nicht länger imstande sind, die dämonischen Kräfte zu bekämpfen.“

Angesichts von Ausbrüchen der Fremdenfeindschaft, wie wir sie in Deutschland in den letzten Monaten erlebt haben, und von antisemitischer Hetze und Gewalt hier und in anderen europäischen Ländern sind die Worte Cassirers von geradezu beklemmender Aktualität. Sie mahnen uns, zu jeder Zeit die eigentliche Lehre der deutschen Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 zu beherzigen: die Verpflichtung, unter allen Umständen die Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen zu achten.

Die zweite, diesmal totale Niederlage Deutschlands im 20. Jahrhundert erschütterte das Selbstbewußtsein der Deutschen ungleich stärker als die Niederlage von 1918. Es war nicht so, dass die überwältigende Mehrheit der Deutschen den Sieg der Alliierten im Mai 1945 als Befreiung erlebt hätte. Anders als die Völker, denen dieser Sieg die Befreiung von deutscher Fremd- und Gewaltherrschaft brachte, bedeutete der „Zusammenbruch“ des nationalsozialistischen Regimes für viele Deutschen zugleich den Zusammenbruch ihres Glaubens an den „Führer“ und ihrer Hoffnungen auf einen deutschen „Endsieg“.  Als Befreiung erlebten die bedingungslose Kapitulation zunächst nur die Deutschen, denen der verbrecherische Charakter von Hitlers Herrschaft schon vorher bewusst geworden oder von jeher bewusst gewesen war.

Als der Vorläufige Rat der evangelischen Kirche in Deutschland im Oktober 1945 im „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ von einer „Solidarität der Schuld“ zwischen Kirche und Volk sprach, stieß das auch innerhalb der Kirche auf verbreiteten Widerspruch. Als unangebrachte Bestätigung der alliierten These von einer deutschen „Kollektivschuld“ galt vor allem der Satz: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“

Vom schrecklichsten aller Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus, der Ermordung von etwa 6 Millionen europäischen Juden, war im „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ nicht ausdrücklich die Rede. Es sollten Jahrzehnte vergehen, bis sich in Deutschland, nicht zuletzt dank der bahnbrechenden Forschungen von jüdischen Gelehrten wie Joseph Wulf, Gerald Reitlinger, Raul Hilberg und  Saul Friedländer, die Einsicht durchsetzte, dass der Holocaust die Zentraltatsache der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts ist. Gleichzeitig wuchs eine andere Erkenntnis: Der von den alliierten Soldaten, und nicht zuletzt denen der Roten Armee, unter schwersten Opfern erkämpfte Sieg über Deutschland hatte die Deutschen in gewisser Weise von sich selbst befreit –  befreit im Sinne der Chance, sich von politischen Verblendungen und von Traditionen zu lösen, die Deutschland  von den westlichen Demokratien trennten.

Kulturell war Deutschland immer ein Land des alten Okzidents, des lateinischen oder westkirchlichen Europa, gewesen. Deutschland hatte an den mittelalterlichen Gewaltenteilungen, der ansatzweisen Trennung erst von geistlicher und weltlicher Gewalt, dann von fürstlicher und ständischer Gewalt, sowie an den Emanzipationsprozessen der frühen Neuzeit vom Humanismus über die Reformation bis zur Aufklärung teilgenommen und sie entscheidend mitgeprägt. Einigen wesentlichen politischen Konsequenzen der Aufklärung aber, den Ideen der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789, den Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie, hatten sich maßgebliche deutsche Eliten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein verweigert. Erst die Erfahrung der deutschen Katastrophe der Jahre 1933 bis 1945, des Höhepunkts der deutschen Auflehnung gegen die politischen Ideen des Westens, entzog diesem Ressentiment allmählich den Boden. Die Chance, eine zweite, diesmal funktionstüchtige und zur Selbstverteidigung fähige parlamentarische Demokratie aufzubauen, erhielt nach 1945 freilich nur ein Teil Deutschlands: die drei westlichen Besatzungszonen, die spätere Bundesrepublik Deutschland, und der Westen des geteilten Berlin. Den Deutschen, die im anderen Teil des Landes lebten, blieb die politische Freiheit viereinhalb Jahrzehnte lang vorenthalten.

Die fortschreitende Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens und die Herausbildung einer selbstkritischen Geschichtskultur gehörten unauflöslich zusammen. Es bedurfte teilweise heftiger wissenschaftlicher, publizistischer und politischer Kontroversen, um diese Prozesse voranzutreiben. Von großer Bedeutung war in diesem Zusammenhang die Debatte über den maßgeblichen Anteil des deutschen Kaiserreiches an der Entstehung des Ersten Weltkriegs. Erst allmählich gelang es, die immer noch einflussreichen nationalapologetischen Deutungen der deutschen Geschichte zu überwinden und der verbreiteten Neigung entgegenzuwirken, im deutschen Volk das erste Opfer Hitlers zu sehen und sich selbst von jeder Mitverantwortung für damals geschehenes Unrecht freizusprechen. Inzwischen erinnern „Stolpersteine“, Gedenktafeln und Gedenkstätten in vielen deutschen Städten an jüdische und andere Opfer des Nationalsozialismus –  und das nicht auf Grund  irgendwelcher staatlicher Erlasse, sondern von bürgerschaftlichen Initiativen. Und oft sind es Schulklassen, die sich der Erforschung der Geschichte ihres Ortes in der Zeit des sogenannten „Dritten Reiches“ widmen.

Sehr zögernd nur kam die strafrechtliche Aufarbeitung nationalsozialistischer Kriegsverbrechen und namentlich der Schoah durch deutsche Gerichte, beginnend mit dem Ulmer Einsatzgruppen-Prozess von 1958, in Gang. Und noch 1986 musste jene öffentliche Auseinandersetzung geführt werden, die als  „Historikerstreit“ in die Annalen der bundesrepublikanischen Geschichte eingegangen ist: eine Debatte über den historischen Ort des nationalsozialistischen Judenmordes – eines Genozids, der den britischen Kriegspremier Winston Churchill in einem Brief an seinen Außenminister Anthony Eden vom 11. Juni 1944 zu der Feststellung veranlasste: „Es besteht kein Zweifel, dass es sich hier um das wahrscheinlich größte und schrecklichste Verbrechen der ganzen Weltgeschichte handelt, das von angeblich zivilisierten Menschen im Namen eines großen Staates und eines führenden Volkes Europas mit wissenschaftlichsten Mitteln verübt wird.“

Viele Deutsche hatten einen langen und schmerzhaften Weg zurücklegen müssen, bevor sie diesem Urteil eines ehemaligen Kriegsgegners rückblickend zustimmen konnten. Aber wären sie nicht bereit gewesen, sich der einzigartigen Monstrosität des Holocaust, der Ermordung der Sinti und Roma, von Zehntausenden geistig behinderter Menschen sowie zahllosen Homosexuellen und der Verantwortung für schrecklichste Kriegsverbrechen in den von Deutschland besetzten und ausgebeuteten Ländern Europas zu stellen, wie hätte die Bundesrepublik Deutschland je wieder zu einem geachteten Mitglied der Völkergemeinschaft werden können?

Besonders schwer war es für die Millionen von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen, das ihnen widerfahrene Leid als Folge der deutschen Gewaltpolitik zu begreifen und sich mit dem Verlust ihrer Heimat abzufinden. Aber als nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989, dem Symbolereignis der friedlichen Revolutionen in Ostmitteleuropa, deren Vorgeschichte bis zur Gründung der unabhängigen Gewerkschaft „Solidarność“ im August 1980 in Polen zurückreicht, die deutsche Frage unverhofft wieder auf die Tagesordnung der internationalen Politik zurückkehrte, da war der überwältigenden Mehrheit der Deutschen, auch der Heimatvertriebenen, klar, dass es ein wiedervereinigtes Deutschland nur in den Grenzen von 1945 geben konnte. Mit anderen Worten: Die deutsche Frage ließ sich  nur lösen, wenn zugleich ein anderes Jahrhundertproblem, die polnische Frage, gelöst wurde. Das eben geschah durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag und den deutsch-polnischen Grenzvertrag vom 14. November 1990: zwei Verträge, durch die die bestehende deutsch-polnische Grenze an Oder und Görlitzer Neiße für alle Zukunft in völkerrechtlich verbindlicher Form anerkannt wurde.

Die historische Bedeutung des 3. Oktober 1990, des Tages, an dem die Deutsche Demokratische Republik gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beitrat, hat Richard von Weizsäcker beim Festakt in der Berliner Philharmonie in dem Satz zusammengefasst: „Der Tag ist gekommen, an dem zum ersten Mal in der Geschichte das ganze Deutschland seinen dauerhaften Platz im Kreis der westlichen Demokratien findet.“

Anders als das am 8. Mai 1945 untergegangene Deutsche Reich war das wiedervereinigte Deutschland von Anfang an in übernationale Zusammenschlüsse wie die Europäische Union und das Atlantische Bündnis eingebunden. Es ist ein postklassischer Nationalstaat, der einige seiner Hoheitsrechte im Staatenverbund der Europäischen Union gemeinsam mit anderen Mitgliedstaaten ausübt oder auf supranationale Einrichtungen übertragen hat. Seine Einheit erlangte Deutschland 1990 nur wieder, weil es glaubwürdig mit jenen Teilen seiner politischen Tradition gebrochen hatte, die der Entwicklung einer freiheitlichen Demokratie westlicher Prägung entgegenstanden. Eben darauf beruhte Deutschlands „zweite Chance“, von der der aus Breslau stammende, von Hitler zur Emigration gezwungene deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern im Juli 1990 gesprochen hat.

Abgeschlossen ist die deutsche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit nicht, und sie wird es auch niemals sein. Jede Generation wird ihren eigenen Zugang zum Verständnis einer so widerspruchsvollen Geschichte wie der deutschen suchen. Es gibt vieles Gelungene in dieser Geschichte, nicht zuletzt in der Zeit nach 1945, über das sich die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland freuen und worauf sie stolz sein können. Aber die Aneignung dieser Geschichte muss auch die Bereitschaft einschließen, sich den dunklen Seiten der Vergangenheit zu stellen. Niemand erwartet von den Nachgeborenen, dass sie sich schuldig fühlen angesichts von Taten, die lange vor ihrer Geburt von Deutschen im Namen Deutschlands begangen wurden. Zur Verantwortung für das eigene Land gehört aber immer auch der Wille, sich der Geschichte dieses Landes im Ganzen bewusst zu werden. Das gilt für alle Deutschen, ob ihre Vorfahren vor 1945 in Deutschland lebten oder erst später hier eingewandert sind. Und es gilt  für die, die sich entschlossen haben oder noch entschließen werden, Deutsche zu werden.

Würden die Deutschen der bequemen Versuchung nachgeben, sich nicht mehr an das erinnern zu wollen, was Deutsche nach 1933 und vor allem im Zweiten Weltkrieg an Schuld auf sich geladen haben, sie würden doch immer wieder damit konfrontiert werden, dass die Nachfahren der Opfer diese Geschichte so leicht nicht vergessen können. SS und Wehrmacht haben vielerorts Verbrechen begangen, die aus der kollektiven Erinnerung der betroffenen Völker nicht zu löschen sind. Dazu gehören die fast 900 Tage währende Belagerung und Aushungerung von Leningrad, die zwischen 600 000 und 800 000 Menschen das Leben kostete,  der billigend in Kauf genommene Tod von 2,7 (von insgesamt 5,7) Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die Vernichtung des jüdischen Ghettos in Warschau nach dem Aufstand vom Frühjahr 1943 und die systematische Zerstörung der  polnischen Hauptstadt nach dem zweiten Warschauer Aufstand im Oktober 1944.

Ortsnamen wie Oradour und Lidice sind in Deutschland bekannter als Kragujevac in Serbien, Distomo in Griechenland und Marzabotto in Italien. Aber auch diese Namen, und es sind nur einige von vielen, stehen für Massaker, die bis heute nachwirken. Es gibt keine moralische Rechtfertigung dafür, die Erinnerung an solche Untaten in Deutschland nicht wachzuhalten und die moralischen Verpflichtungen zu vergessen, die sich daraus ergeben. Dasselbe gilt für die unmenschliche Behandlung von Millionen von Zwangsarbeitern, vor allem der sogenannten „Ostarbeiter“ und besonders wiederum der Juden, für die Zwangsarbeit fast immer die Vorstufe der Vernichtung war. Unter eine solche Geschichte lässt sich kein Schlussstrich ziehen.

Neben dem Vergessen gibt es freilich auch noch eine andere Gefahr im Umgang mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte: eine forcierte Aktualisierung zu politischen Zwecken. Wenn Deutschland sich an Versuchen der Völkergemeinschaft beteiligt, einen drohenden Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern, bedarf es nicht der Berufung auf Auschwitz. Auf der anderen Seite lässt sich weder aus dem Holocaust noch aus anderen nationalsozialistischen Verbrechen noch aus dem Zweiten Weltkrieg insgesamt ein deutsches Recht auf Wegsehen ableiten. Die Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten sind kein Argument, um ein Beiseitestehen Deutschlands in Fällen zu begründen, wo es zwingende Gründe gibt, zusammen mit anderen Staaten im Sinne der „responsibility to protect“, einer Schutzverantwortung der Völkergemeinschaft, tätig zu werden.

Jede tagespolitisch motivierte Instrumentalisierung der Ermordung der europäischen Juden läuft auf die Banalisierung dieses Verbrechens hinaus. Ein verantwortlicher Umgang mit der Geschichte zielt darauf ab, verantwortliches Handeln in der Gegenwart möglich zu machen. Daraus folgt zum einen, dass sich die Deutschen durch die Betrachtung ihrer Geschichte nicht lähmen lassen dürfen. Zum anderen gilt es, politische Entscheidungen nicht dadurch zu überhöhen, dass man sie als die jeweils einzig richtige Lehre aus der deutschen Vergangenheit ausgibt. Jeder Versuch, mit dem Hinweis auf den Nationalsozialismus eine deutsche Sondermoral zu begründen, führt in die Irre.

Gleichwohl gibt es nach wie vor deutsche Verpflichtungen, die unmittelbar oder mittelbar aus der deutschen Politik der Jahre 1933 bis 1945 erwachsen. Mit an erster Stelle zu nennen sind in diesem Zusammenhang die besonderen Beziehungen zu Israel, wie sie sich in den letzten fünf Jahrzehnten entwickelt haben. Doch auch innerhalb Europas wirkt die Zeit des Nationalsozialismus nach als Vergangenheit, die nicht vergehen will. Das Deutsche Reich hat unter Führung Hitlers nicht nur die nationale Souveränität und territoriale Integrität vieler europäischer Staaten mit Füßen getreten. Es hat durch den Hitler-Stalin-Pakt, den Angriff auf Polen und den Überfall auf die Sowjetunion auch die Voraussetzungen für die viereinhalb Jahrzehnte währende Spaltung Europas in einen freien und einen unfreien Teil geschaffen. Daraus ergibt sich eine besondere Pflicht zur Solidarität mit Ländern, die erst im Zuge der friedlichen Revolutionen von 1989/90 ihr Recht auf innere und äußere Selbstbestimmung wiedergewonnen haben.

Am 21. November 1990, knapp sieben Wochen nach der Wiedervereinigung Deutschlands, wurde in der französischen Hauptstadt die Charta von Paris unterzeichnet. Darin verpflichteten sich alle 34 Mitgliedstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, „die Demokratie als einzige Regierungsform unserer Nationen aufzubauen, zu festigen und zu stärken“. In einem Augenblick, da Europa am Beginn eines neuen Zeitalters stehe, bekannten sich die Unterzeichnerstaaten, unter ihnen die Sowjetunion, zur friedlichen Beilegung von Streitfällen. Sie bekräftigten die Prinzipien der 15 Jahre zuvor unterzeichneten Schlussakte von Helsinki, darunter die Achtung der territorialen Integrität und der politischen Unabhängigkeit sowie den Verzicht auf die Androhung und Anwendung von Gewalt. Wenn es irgendein Datum gibt, das für das definitive Ende der zweiten Nachweltkriegszeit des 20. Jahrhunderts steht, dann ist es der Tag der Unterzeichnung der Charta von Paris, der 21. November 1990.

Von den Hoffnungen der Epochenwende der Jahre 1989 bis 1991 sind einige in Erfüllung gegangen, andere nicht. Der durch die Vereinbarungen der „Großen Drei“ von Jalta, der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion, im Februar 1945 geteilte alte europäische Okzident ist wieder zusammengewachsen. In Ostmittel- und Südosteuropa entstand, anders als nach 1918, kein neues „Zwischeneuropa“, keine Zone der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Instabilität. Vielmehr gehören die meisten Demokratien dieser Region inzwischen der Europäischen Union und dem Atlantischen Bündnis an. Die Vision vom trikontinentalen Friedensraum von Vancouver bis Wladiwostok, einem großen Bund freiheitlicher Demokratien, aber wurde nicht verwirklicht. Das Jahr 2014 markiert eine tiefe Zäsur: Durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim ist die Gültigkeit der Prinzipien der Charta von Paris radikal in Frage gestellt – und mit ihr die europäische Friedensordnung, auf die sich die einstigen Kontrahenten des Kalten Krieges damals verständigt hatten.

Deutschland hat während des immer noch andauernden Konflikts um die Ukraine alles getan, was in seinen Kräften steht, um den Zusammenhalt der Europäischen Union und des Atlantischen Bündnisses zu sichern. Es hat sich zugleich in enger Abstimmung mit seinen Verbündeten darum bemüht, im Dialog mit Russland so viel wie möglich von jener Politik der konstruktiven Zusammenarbeit zu retten oder wiederherzustellen, auf die sich Ost und West nach dem Ende des Kalten Krieges verständigt hatten. Eines galt und gilt es dabei immer zu beachten, und auch das ist eine Lehre aus der deutschen Geschichte: Nie wieder dürfen unsere ostmitteleuropäischen Nachbarn, die 1939/40 Opfer der deutsch-sowjetischen Doppelaggression im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes wurden und die heute unsere Partner in der Europäischen Union im Atlantischen Bündnis sind – nie wieder dürfen Polen und die baltischen Republiken den Eindruck gewinnen, als werde zwischen Berlin und Moskau irgendetwas über ihre Köpfe hinweg und auf ihre Kosten entschieden.

Ende Mai 1945, wenige Wochen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa, trug Thomas Mann, im Ersten Weltkrieg noch ein beredter Fürsprecher der deutschen „Ideen von 1914“, in der Library of Congress in Washington auf englisch Gedanken über „Deutschland und die Deutschen“ vor. In dieser Rede, die nach seinem eigenem Zeugnis ein „Stück deutscher Selbstkritik“ sein sollte, steht ein Satz, der das Ergebnis seines Nachdenkens prägnant bündelt: „Die Deutschen ließen sich verführen, auf ihren eingeborenen Kosmopolitismus den Anspruch auf europäische Hegemonie, ja auf Weltherrschaft zu gründen, wodurch er zu seinem strikten Gegenteil, zum anmaßlichsten und bedrohlichsten Nationalismus und Imperialismus wurde.“

Mit dem Selbstverständnis eines Staatenverbundes wie der Europäischen Union ist die Hegemonie eines Landes unvereinbar. Dem wiedervereinigten Deutschland fällt innerhalb der EU schon auf Grund seiner Bevölkerungszahl und seiner Wirtschaftskraft eine besondere Verantwortung für den Zusammenhalt und die Weiterentwicklung dieser supranationalen Gemeinschaft zu. Dazu kommt die Verantwortung, die sich aus der deutschen Geschichte ergibt. Es ist eine an Höhen und Tiefen reiche Geschichte, die nicht aufgeht in den Jahren 1933 bis 1945 und die auch nicht zwangsläufig auf die Machtüberragung an Hitler hingeführt, wohl aber dieses Ereignis und seine Folgen ermöglicht hat. Sich dieser Geschichte zu stellen, ist beides: ein europäischer Imperativ und das Gebot eines aufgeklärten Patriotismus. Um es in den Worten des dritten Bundespräsidenten Gustav Heinemann aus seiner Rede zum Amtsantritt am 1. Juli 1969 zu sagen: „Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland.“

Befreiung

Die meisten Menschen werden sie nicht gelesen haben, die mittlerweile berühmte Rede des kürzlich verstorbenen Bundepräsidenten Richard von Weizsäcker in der Gedenkveranstaltung im  Deutschen Bundestag zum vierzigsten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa.

Bonn, 8. Mai 1985

I.

Viele Völker gedenken heute des Tages, an dem der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging. Seinem Schicksal gemäß hat jedes Volk dabei seine eigenen Gefühle. Sieg oder Niederlage, Befreiung von Unrecht und Fremdherrschaft oder Übergang zu neuer Abhängigkeit, Teilung, neue Bündnisse, gewaltige Machtverschiebungen – der 8. Mai 1945 ist ein Datum von entscheidender historischer Bedeutung in Europa.

Wir Deutsche begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig. Wir müssen die Maßstäbe allein finden. Schonung unserer Gefühle durch uns selbst oder durch andere hilft nicht weiter. Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit so gut wir es können ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit.

Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mußten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen.

Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewußt erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, daß Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche vor dem geschenkten neuen Anfang.

Es war schwer, sich alsbald klar zu orientieren. Ungewißheit erfüllte das Land. Die militärische Kapitulation war bedingungslos. Unser Schicksal lag in der Hand der Feinde. Die Vergangenheit war furchtbar gewesen, zumal auch für viele dieser Feinde. Würden sie uns nun nicht vielfach entgelten lassen, was wir ihnen angetan hatten?

Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient. Erschöpfung, Ratlosigkeit und neue Sorgen kennzeichneten die Gefühle der meisten. Würde man noch eigene Angehörige finden? Hatte ein Neuaufbau in diesen Ruinen überhaupt Sinn?

Der Blick ging zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit und nach vorn in eine ungewisse dunkle Zukunft.

Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.

Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte.

Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.

Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen. Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.

II.

Der 8. Mai ist ein Tag der Erinnerung. Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, daß es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit.

Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft.

Wir gedenken insbesondere der sechs Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden.

Wir gedenken aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor allem der unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der Polen, die ihr Leben verloren haben.

Als Deutsche gedenken wir in Trauer der eigenen Landsleute, die als Soldaten, bei den Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind.

Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten Homosexuellen, der umgebrachten Geisteskranken, der Menschen, die um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung willen sterben mußten.

Wir gedenken der erschossenen Geiseln.

Wir denken an die Opfer des Widerstandes in allen von uns besetzten Staaten.

Als Deutsche ehren wir das Andenken der Opfer des deutschen Widerstandes, des bürgerlichen, des militärischen und glaubensbegründeten, des Widerstandes in der Arbeiterschaft und bei Gewerkschaften, des Widerstandes der Kommunisten.

Wir gedenken derer, die nicht aktiv Widerstand leisteten, aber eher den Tod hinnahmen, als ihr Gewissen zu beugen.

Neben dem unübersehbar großen Heer der Toten erhebt sich ein Gebirge menschlichen Leids,
Leid um die Toten,
Leid durch Verwundung und Verkrüppelung,
Leid durch unmenschliche Zwangssterilisierung,
Leid in Bombennächten,
Leid durch Flucht und Vertreibung, durch Vergewaltigung und Plünderung, durch Zwangsarbeit, durch Unrecht und Folter, durch Hunger und Not,
Leid durch Angst vor Verhaftung und Tod,
Leid durch Verlust all dessen, woran man irrend geglaubt und wofür man gearbeitet hatte.

Heute erinnern wir uns dieses menschlichen Leids und gedenken seiner in Trauer.

Den vielleicht größten Teil dessen, was den Menschen aufgeladen war, haben die Frauen der Völker getragen.

Ihr Leiden, ihre Entsagung und ihre stille Kraft vergißt die Weltgeschichte nur allzu leicht. Sie haben gebangt und gearbeitet, menschliches Leben getragen und beschützt. Sie haben getrauert um gefallene Väter und Söhne, Männer, Brüder und Freunde.

Sie haben in den dunkelsten Jahren das Licht der Humanität vor dem Erlöschen bewahrt.

Am Ende des Krieges haben sie als erste und ohne Aussicht auf eine gesicherte Zukunft Hand angelegt, um wieder einen Stein auf den anderen zu setzen, die Trümmerfrauen in Berlin und überall.

Als die überlebenden Männer heimkehrten, mußten Frauen oft wieder zurückstehen. Viele Frauen blieben aufgrund des Krieges allein und verbrachten ihr Leben in Einsamkeit.

Wenn aber die Völker an den Zerstörungen, den Verwüstungen, den Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten innerlich nicht zerbrachen, wenn sie nach dem Krieg langsam wieder zu sich selbst kamen, dann verdanken wir es zuerst unseren Frauen.

III.

Am Anfang der Gewaltherrschaft hatte der abgrundtiefe Haß Hitlers gegen unsere jüdischen Mitmenschen gestanden. Hitler hatte ihn nie vor der Öffentlichkeit verschwiegen, sondern das ganze Volk zum Werkzeug dieses Hasses gemacht. Noch am Tag vor seinem Ende am 30. April 1945 hatte er sein sogenanntes Testament mit den Worten abgeschlossen: “Vor allem verpflichte ich die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung der Rassegesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum.”

Gewiß, es gibt kaum einen Staat, der in seiner Geschichte immer frei blieb von schuldhafter Verstrickung in Krieg und Gewalt. Der Völkermord an den Juden jedoch ist beispiellos in der Geschichte.

Die Ausführung des Verbrechens lag in der Hand weniger. Vor den Augen der Öffentlichkeit wurde es abgeschirmt. Aber jeder Deutsche konnte miterleben, was jüdische Mitbürger erleiden mußten, von kalter Gleichgültigkeit über versteckte Intoleranz bis zu offenem Haß.

Wer konnte arglos bleiben nach den Bränden der Synagogen, den Plünderungen, der Stigmatisierung mit dem Judenstern, dem Rechtsentzug, der unaufhörlichen Schändung der menschlichen Würde?

Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, daß Deportationszüge rollten. Die Phantasie der Menschen mochte für Art und Ausmaß der Vernichtung nicht ausreichen. Aber in Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler, auch in meiner Generation, die wir jung und an der Planung und Ausführung der Ereignisse unbeteiligt waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah.

Es gab viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen, nicht zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen. Als dann am Ende des Krieges die ganze unsagbare Wahrheit des Holocaust herauskam, beriefen sich allzu viele von uns darauf, nichts gewußt oder auch nur geahnt zu haben.

Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich.

Es gibt entdeckte und verborgen gebliebene Schuld von Menschen. Es gibt Schuld, die sich Menschen eingestanden oder abgeleugnet haben. Jeder, der die Zeit mit vollem Bewußtsein erlebt hat, frage sich heute im Stillen selbst nach seiner Verstrickung.

Der ganz überwiegende Teil unserer heutigen Bevölkerung war zur damaligen Zeit entweder im Kindesalter oder noch gar nicht geboren. Sie können nicht eine eigene Schuld bekennen für Taten, die sie gar nicht begangen haben.

Kein fühlender Mensch erwartet von ihnen, ein Büßerhemd zu tragen, nur weil sie Deutsche sind. Aber die Vorfahren haben ihnen eine schwere Erbschaft hinterlassen.

Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen.

Jüngere und Ältere müssen und können sich gegenseitig helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten.

Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie läßt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.

Das jüdische Volk erinnert sich und wird sich immer erinnern. Wir suchen als Menschen Versöhnung.

Gerade deshalb müssen wir verstehen, daß es Versöhnung ohne Erinnerung gar nicht geben kann. Die Erfahrung millionenfachen Todes ist ein Teil des Innern jedes Juden in der Welt, nicht nur deshalb, weil Menschen ein solches Grauen nicht vergessen können. Sondern die Erinnerung gehört zum jüdischen Glauben.

“Das Vergessenwollen verlängert das Exil,
und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.”

Diese oft zitierte jüdische Weisheit will wohl besagen, daß der Glaube an Gott ein Glaube an sein Wirken in der Geschichte ist.

Die Erinnerung ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte. Sie ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung. Diese Erfahrung schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an Erlösung, an Wiedervereinigung des Getrennten, an Versöhnung. Wer sie vergißt, verliert den Glauben.

Würden wir unsererseits vergessen wollen, was geschehen ist, anstatt uns zu erinnern, dann wäre dies nicht nur unmenschlich. Sondern wir würden damit dem Glauben der überlebenden Juden zu nahe treten, und wir würden den Ansatz zur Versöhnung zerstören.

Für uns kommt es auf ein Mahnmal des Denkens und Fühlens in unserem eigenen Inneren an.

IV.

Der 8. Mai ist ein tiefer historischer Einschnitt, nicht nur in der deutschen, sondern auch in der europäischen Geschichte.

Der europäische Bürgerkrieg war an sein Ende gelangt, die alte europäische Welt zu Bruch gegangen. “Europa hatte sich ausgekämpft” (M. Stürmer). Die Begegnung amerikanischer und sowjetrussischer Soldaten an der Elbe wurde zu einem Symbol für das vorläufige Ende einer europäischen Ära.

Gewiß, das alles hatte seine alten geschichtlichen Wurzeln. Großen, ja bestimmenden Einfluß hatten die Europäer in der Welt, aber ihr Zusammenleben auf dem eigenen Kontinent zu ordnen, das vermochten sie immer schlechter. Über hundert Jahre lang hatte Europa unter dem Zusammenprall nationalistischer Übersteigerungen gelitten. Am Ende des Ersten Weltkrieges war es zu Friedensverträgen gekommen. Aber ihnen hatte die Kraft gefehlt, Frieden zu stiften. Erneut waren nationalistische Leidenschaften aufgeflammt und hatten sich mit sozialen Notlagen verknüpft.

Auf dem Weg ins Unheil wurde Hitler die treibende Kraft. Er erzeugte und er nutzte Massenwahn. Eine schwache Demokratie war unfähig, ihm Einhalt zu gebieten. Und auch die europäischen Westmächte, nach Churchills Urteil “arglos, nicht schuldlos”, trugen durch Schwäche zur verhängnisvollen Entwicklung bei. Amerika hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg wieder zurückgezogen und war in den dreißiger Jahren ohne Einfluß auf Europa.

Hitler wollte die Herrschaft über Europa, und zwar durch Krieg. Den Anlaß dafür suchte und fand er in Polen.

Am 23. Mai 1939 – wenige Monate vor Kriegsausbruch – erklärte er vor der deutschen Generalität: “Weitere Erfolge können ohne Blutvergießen nicht mehr errungen werden … Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um die Erweiterung des Lebensraumes im Osten und Sicherstellung der Ernährung … Es entfällt also die Frage, Polen zu schonen, und bleibt der Entschluß, bei erster passender Gelegenheit Polen anzugreifen … Hierbei spielen Recht oder Unrecht oder Verträge keine Rolle.”

Am 23. August 1939 wurde der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt geschlossen. Das geheime Zusatzprotokoll regelte die bevorstehende Aufteilung Polens.

Der Vertrag wurde geschlossen, um Hitler den Einmarsch in Polen zu ermöglichen. Das war der damaligen Führung der Sowjetunion voll bewußt. Allen politisch denkenden Menschen jener Zeit war klar, daß der deutsch-sowjetische Pakt Hitlers Einmarsch in Polen und damit den Zweiten Weltkrieg bedeutete.

Dadurch wird die deutsche Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht verringert. Die Sowjetunion nahm den Krieg anderer Völker in Kauf, um sich am Ertrag zu beteiligen. Die Initiative zum Krieg aber ging von Deutschland aus, nicht von der Sowjetunion.

Es war Hitler, der zur Gewalt griff. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bleibt mit dem deutschen Namen verbunden.

Während dieses Krieges hat das nationalsozialistische Regime viele Völker gequält und geschändet.

Am Ende blieb nur noch ein Volk übrig, um gequält, geknechtet und geschändet zu werden: das eigene, das deutsche Volk. Immer wieder hat Hitler ausgesprochen: wenn das deutsche Volk schon nicht fähig sei, in diesem Krieg zu siegen, dann möge es eben untergehen. Die anderen Völker wurden zunächst Opfer eines von Deutschland ausgehenden Krieges, bevor wir selbst zu Opfern unseres eigenen Krieges wurden.

Es folgte die von den Siegermächten verabredete Aufteilung Deutschlands in verschiedene Zonen. Inzwischen war die Sowjetunion in alle Staaten Ost- und Südosteuropas, die während des Krieges von Deutschland besetzt worden waren, einmarschiert. Mit Ausnahme Griechenlands wurden alle diese Staaten sozialistische Staaten.

Die Spaltung Europas in zwei verschiedene politische Systeme nahm ihren Lauf. Es war erst die Nachkriegsentwicklung, die sie befestigte. Aber ohne den von Hitler begonnenen Krieg wäre sie nicht gekommen. Daran denken die betroffenen Völker zuerst, wenn sie sich des von der deutschen Führung ausgelösten Krieges erinnern.

Im Blick auf die Teilung unseres eigenen Landes und auf den Verlust großer Teile des deutschen Staatsgebietes denken auch wir daran. In seiner Predigt zum 8. Mai sagte Kardinal Meißner in Ostberlin: “Das trostlose Ergebnis der Sünde ist immer die Trennung.”

V.

Die Willkür der Zerstörung wirkte in der willkürlichen Verteilung der Lasten nach. Es gab Unschuldige, die verfolgt wurden, und Schuldige, die entkamen. Die einen hatten das Glück, zu Hause in vertrauter Umgebung ein neues Leben aufbauen zu können. Andere wurden aus der angestammten Heimat vertrieben.

Wir in der späteren Bundesrepublik Deutschland erhielten die kostbare Chance der Freiheit. Vielen Millionen Landsleuten bleibt sie bis heute versagt.

Die Willkür der Zuteilung unterschiedlicher Schicksale ertragen zu lernen, war die erste Aufgabe im Geistigen, die sich neben der Aufgabe des materiellen Wiederaufbaus stellte. An ihr mußte sich die menschliche Kraft erproben, die Lasten anderer zu erkennen, an ihnen dauerhaft mitzutragen, sie nicht zu vergessen. In ihr mußte die Fähigkeit zum Frieden und die Bereitschaft zur Versöhnung nach innen und außen wachsen, die nicht nur andere von uns forderten, sondern nach denen es uns selbst am allermeisten verlangte.

Wir können des 8. Mai nicht gedenken, ohne uns bewußtzumachen, welche Überwindung die Bereitschaft zur Aussöhnung den ehemaligen Feinden abverlangte. Können wir uns wirklich in die Lage von Angehörigen der Opfer des Warschauer Ghettos oder des Massakers von Lidice versetzen?

Wie schwer mußte es aber auch einem Bürger in Rotterdam oder London fallen, den Wiederaufbau unseres Landes zu unterstützen, aus dem die Bomben stammten, die erst kurze Zeit zuvor auf seine Stadt gefallen waren! Dazu mußte allmählich eine Gewißheit wachsen, daß Deutsche nicht noch einmal versuchen würden, eine Niederlage mit Gewalt zu korrigieren.

Bei uns selbst wurde das Schwerste den Heimatvertriebenen abverlangt. Ihnen ist noch lange nach dem 8. Mai bitteres Leid und schweres Unrecht widerfahren. Um ihrem schweren Schicksal mit Verständnis zu begegnen, fehlt uns Einheimischen oft die Phantasie und auch das offene Herz.

Aber es gab alsbald auch große Zeichen der Hilfsbereitschaft. Viele Millionen Flüchtlinge und Vertriebene wurden aufgenommen. Im Laufe der Jahre konnten sie neue Wurzeln schlagen. Ihre Kinder und Enkel bleiben auf vielfache Weise der Kultur und der Liebe zur Heimat ihrer Vorfahren verbunden. Das ist gut so, denn das ist ein wertvoller Schatz in ihrem Leben.

Sie haben aber selbst eine neue Heimat gefunden, in der sie mit den gleichaltrigen Einheimischen aufwachsen und zusammenwachsen, ihre Mundart sprechen und ihre Gewohnheiten teilen. Ihr junges Leben ist ein Beweis für die Fähigkeit zum inneren Frieden. Ihre Großeltern oder Eltern wurden einst vertrieben, sie jedoch sind jetzt zu Hause.

Früh und beispielhaft haben sich die Heimatvertriebenen zum Gewaltverzicht bekannt. Das war keine vergängliche Erklärung im anfänglichen Stadium der Machtlosigkeit, sondern ein Bekenntnis, das seine Gültigkeit behält. Gewaltverzicht bedeutet, allseits das Vertrauen wachsen zu lassen, daß auch ein wieder zu Kräften gekommenes Deutschland daran gebunden bleibt.

Die eigene Heimat ist mittlerweile anderen zur Heimat geworden. Auf vielen alten Friedhöfen im Osten finden sich heute schon mehr polnische als deutsche Gräber.

Der erzwungenen Wanderschaft von Millionen Deutschen nach Westen folgten Millionen Polen und ihnen wiederum Millionen Russen. Es sind alles Menschen, die nicht gefragt wurden, Menschen, die Unrecht erlitten haben, Menschen, die wehrlose Objekte der politischen Ereignisse wurden und denen keine Aufrechnung von Unrecht und keine Konfrontation von Ansprüchen wiedergutmachen kann, was ihnen angetan worden ist.

Gewaltverzicht heute heißt, den Menschen dort, wo sie das Schicksal nach dem 8. Mai hingetrieben hat und wo sie nun seit Jahrzehnten leben, eine dauerhafte, politisch unangefochtene Sicherheit für ihre Zukunft zu geben. Es heißt, den widerstreitenden Rechtsansprüchen das Verständigungsgebot überzuordnen.

Darin liegt der eigentliche, der menschliche Beitrag zu einer europäischen Friedensordnung, der von uns ausgehen kann.

Der Neuanfang in Europa nach 1945 hat dem Gedanken der Freiheit und Selbstbestimmung Siege und Niederlagen gebracht. Für uns gilt es, die Chance des Schlußstrichs unter eine lange Periode europäischer Geschichte zu nutzen, in der jedem Staat Frieden nur denkbar und sicher schien als Ergebnis eigener Überlegenheit und in der Frieden eine Zeit der Vorbereitung des nächsten Krieges bedeutete.

Die Völker Europas lieben ihre Heimat. Den Deutschen geht es nicht anders. Wer könnte der Friedensliebe eines Volkes vertrauen, das imstande wäre, seine Heimat zu vergessen?

Nein, Friedensliebe zeigt sich gerade darin, daß man seine Heimat nicht vergißt und eben deshalb entschlossen ist, alles zu tun, um immer in Frieden miteinander zu leben. Heimatliebe eines Vertriebenen ist kein Revanchismus.

VI.

Stärker als früher hat der letzte Krieg die Friedenssehnsucht im Herzen der Menschen geweckt. Die Versöhnungsarbeit von Kirchen fand eine tiefe Resonanz. Für die Verständigungsarbeit von jungen Menschen gibt es viele Beispiele. Ich denke an die “Aktion Sühnezeichen” mit ihrer Tätigkeit in Auschwitz und Israel. Eine Gemeinde der niederrheinischen Stadt Kleve erhielt neulich Brote aus polnischen Gemeinden als Zeichen der Aussöhnung und Gemeinschaft. Eines dieser Brote hat sie an einen Lehrer nach England geschickt. Denn dieser Lehrer aus England war aus der Anonymität herausgetreten und hatte geschrieben, er habe damals im Krieg als Bombenflieger Kirchen und Wohnhäuser in Kleve zerstört und wünsche sich ein Zeichen der Aussöhnung.

Es hilft unendlich viel zum Frieden, nicht auf den anderen zu warten, bis er kommt, sondern auf ihn zuzugehen, wie dieser Mann es getan hat.

VII.

In seiner Folge hat der Krieg alte Gegner menschlich und auch politisch einander nähergebracht. Schon 1946 rief der amerikanische Außenminister Byrnes in seiner denkwürdigen Stuttgarter Rede zur Verständigung in Europa und dazu auf, dem deutschen Volk auf seinem Weg in eine freie und friedliebende Zukunft zu helfen.

Unzählige amerikanische Bürger haben damals mit ihren privaten Mitteln uns Deutsche, die Besiegten, unterstützt, um die Wunden des Krieges zu heilen.

Dank der Weitsicht von Franzosen wie Jean Monnet und Robert Schuman und von Deutschen wie Konrad Adenauer endete eine alte Feindschaft zwischen Franzosen und Deutschen für immer.

Ein neuer Strom von Aufbauwillen und Energie ging durch das eigene Land. Manche alte Gräben wurden zugeschüttet, konfessionelle Gegensätze und soziale Spannungen verloren an Schärfe. Partnerschaftlich ging man ans Werk.

Es gab keine “Stunde Null”, aber wir hatten die Chance zu einem Neubeginn. Wir haben sie genutzt so gut wir konnten. An die Stelle der Unfreiheit haben wir die demokratische Freiheit gesetzt.

Vier Jahre nach Kriegsende, 1949, am 8. Mai, beschloß der Parlamentarische Rat unser Grundgesetz. Über Parteigrenzen hinweg gaben seine Demokraten die Antwort auf Krieg und Gewaltherrschaft im Artikel 1 unserer Verfassung:

“Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.”

Auch an diese Bedeutung des 8. Mai gilt es heute zu erinnern.

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein weltweit geachteter Staat geworden. Sie gehört zu den hochentwickelten Industrieländern der Welt. Mit ihrer wirtschaftlichen Kraft weiß sie sich mitverantwortlich dafür, Hunger und Not in der Welt zu bekämpfen und zu einem sozialen Ausgleich unter den Völkern beizutragen.

Wir leben seit vierzig Jahren in Frieden und Freiheit, und wir haben durch unsere Politik unter den freien Völkern des Atlantischen Bündnisses und der Europäischen Gemeinschaft dazu selbst einen großen Beitrag geleistet.

Nie gab es auf deutschem Boden einen besseren Schutz der Freiheitsrechte des Bürgers als heute. Ein dichtes soziales Netz, das den Vergleich mit keiner anderen Gesellschaft zu scheuen braucht, sichert die Lebensgrundlage der Menschen.

Hatten sich bei Kriegsende viele Deutsche noch darum bemüht, ihren Paß zu verbergen oder gegen einen anderen einzutauschen, so ist heute unsere Staatsbürgerschaft ein angesehenes Recht.

Wir haben wahrlich keinen Grund zu Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit. Aber wir dürfen uns der Entwicklung dieser vierzig Jahre dankbar erinnern, wenn wir das eigene historische Gedächtnis als Leitlinie für unser Verhalten in der Gegenwart und für die ungelösten Aufgaben, die auf uns warten, nutzen.

– Wenn wir uns daran erinnern, daß Geisteskranke im Dritten Reich getötet wurden, werden wir die Zuwendung zu psychisch kranken Bürgern als unsere eigene Aufgabe verstehen.
– Wenn wir uns erinnern, wie rassisch, religiös und politisch Verfolgte, die vom sicheren Tod bedroht waren, oft vor geschlossenen Grenzen anderer Staaten standen, werden wir vor denen, die heute wirklich verfolgt sind und bei uns Schutz suchen, die Tür nicht verschließen.
– Wenn wir uns der Verfolgung des freien Geistes während der Diktatur besinnen, werden wir die Freiheit jedes Gedankens und jeder Kritik schützen, so sehr sie sich auch gegen uns selbst richten mag.
– Wer über die Verhältnisse im Nahen Osten urteilt, der möge an das Schicksal denken, das Deutsche den jüdischen Mitmenschen bereiteten und das die Gründung des Staates Israel unter Bedingungen auslöste, die noch heute die Menschen in dieser Region belasten und gefährden.
– Wenn wir daran denken, was unsere östlichen Nachbarn im Kriege erleiden mußten, werden wir besser verstehen, daß der Ausgleich, die Entspannung und die friedliche Nachbarschaft mit diesen Ländern zentrale Aufgaben der deutschen Außenpolitik bleiben. Es gilt, daß beide Seiten sich erinnern und beide Seiten einander achten. Sie haben menschlich, sie haben kulturell, sie haben letzten Endes auch geschichtlich allen Grund dazu.

Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Michail Gorbatschow hat verlautbart, es ginge der sowjetischen Führung beim 40. Jahrestag des Kriegsendes nicht darum, antideutsche Gefühle zu schüren. Die Sowjetunion trete für Freundschaft zwischen den Völkern ein.

Gerade wenn wir Fragen auch an sowjetische Beiträge zur Verständigung zwischen Ost und West und zur Achtung von Menschenrechten in allen Teilen Europas haben, gerade dann sollten wir dieses Zeichen aus Moskau nicht überhören. Wir wollen Freundschaft mit den Völkern der Sowjetunion.

VIII.

Vierzig Jahre nach dem Ende des Krieges ist das deutsche Volk nach wie vor geteilt.

Beim Gedenkgottesdienst in der Kreuzkirche zu Dresden sagte Bischof Hempel im Februar dieses Jahres: “Es lastet, es blutet, daß zwei deutsche Staaten entstanden sind mit ihrer schweren Grenze. Es lastet und blutet die Fülle der Grenzen überhaupt. Es lasten die Waffen.”

Vor kurzem wurde in Baltimore in den Vereinigten Staaten eine Ausstellung “Juden in Deutschland” eröffnet. Die Botschafter beider deutscher Staaten waren der Einladung gefolgt. Der gastgebende Präsident der Johns-Hopkins-Universität begrüßte sie zusammen. Er verwies darauf, daß alle Deutschen auf dem Boden derselben historischen Entwicklung stehen. Eine gemeinsame Vergangenheit verknüpfte sie mit einem Band. Ein solches Band könne eine Freude oder ein Problem sein – es sei immer eine Quelle der Hoffnung.

Wir Deutschen sind ein Volk und eine Nation. Wir fühlen uns zusammengehörig, weil wir dieselbe Geschichte durchlebt haben.

Auch den 8. Mai 1945 haben wir als gemeinsames Schicksal unseres Volkes erlebt, das uns eint. Wir fühlen uns zusammengehörig in unserem Willen zum Frieden. Von deutschem Boden in beiden Staaten sollen Frieden und gute Nachbarschaft mit allen Ländern ausgehen. Auch andere sollen ihn nicht zur Gefahr für den Frieden werden lassen.

Die Menschen in Deutschland wollen gemeinsam einen Frieden, der Gerechtigkeit und Menschenrecht für alle Völker einschließt, auch für das unsrige.

Nicht ein Europa der Mauern kann sich über Grenzen hinweg versöhnen, sondern ein Kontinent, der seinen Grenzen das Trennende nimmt. Gerade daran mahnt uns das Ende des Zweiten Weltkrieges.

Wir haben die Zuversicht, daß der 8. Mai nicht das letzte Datum unserer Geschichte bleibt, das für alle Deutschen verbindlich ist.

IX.

Manche junge Menschen haben sich und uns in den letzten Monaten gefragt, warum es vierzig Jahre nach Ende des Krieges zu so lebhaften Auseinandersetzungen über die Vergangenheit gekommen ist. Warum lebhafter als nach fünfundzwanzig oder dreißig Jahren? Worin liegt die innere Notwendigkeit dafür?

Es ist nicht leicht, solche Fragen zu beantworten. Aber wir sollten die Gründe dafür nicht vornehmlich in äußeren Einflüssen suchen, obwohl es diese zweifellos auch gegeben hat.

Vierzig Jahre spielen in der Zeitspanne von Menschenleben und Völkerschicksalen eine große Rolle.

Auch hier erlauben Sie mir noch einmal einen Blick auf das Alte Testament, das für jeden Menschen unabhängig von seinem Glauben tiefe Einsichten aufbewahrt. Dort spielen vierzig Jahre eine häufig wiederkehrende, eine wesentliche Rolle.

Vierzig Jahre sollte Israel in der Wüste bleiben, bevor der neue Abschnitt in der Geschichte mit dem Einzug ins verheißene Land begann.

Vierzig Jahre waren notwendig für einen vollständigen Wechsel der damals verantwortlichen Vätergeneration.

An anderer Stelle aber (Buch der Richter) wird aufgezeichnet, wie oft die Erinnerung an erfahrene Hilfe und Rettung nur vierzig Jahre dauerte. Wenn die Erinnerung abriß, war die Ruhe zu Ende.

So bedeuten vierzig Jahre stets einen großen Einschnitt. Sie wirken sich aus im Bewußtsein der Menschen, sei es als Ende einer dunklen Zeit mit der Zuversicht auf eine neue und gute Zukunft, sei es als Gefahr des Vergessens und als Warnung vor den Folgen. Über beides lohnt es sich nachzudenken.

Bei uns ist eine neue Generation in die politische Verantwortung hereingewachsen. Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.

Wir Älteren schulden der Jugend nicht die Erfüllung von Träumen, sondern Aufrichtigkeit. Wir müssen den Jüngeren helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten. Wir wollen ihnen helfen, sich auf die geschichtliche Wahrheit nüchtern und ohne Einseitigkeit einzulassen, ohne Flucht in utopische Heilslehren, aber auch ohne moralische Überheblichkeit.

Wir lernen aus unserer eigenen Geschichte, wozu der Mensch fähig ist. Deshalb dürfen wir uns nicht einbilden, wir seien nun als Menschen anders und besser geworden.

Es gibt keine endgültig errungene moralische Vollkommenheit – für niemanden und kein Land! Wir haben als Menschen gelernt, wir bleiben als Menschen gefährdet. Aber wir haben die Kraft, Gefährdungen immer von neuem zu überwinden.

Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Haß zu schüren.

Die Bitte an die jungen Menschen lautet:

Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Haß
gegen andere Menschen,
gegen Russen oder Amerikaner,
gegen Juden oder Türken,
gegen Alternative oder Konservative,
gegen Schwarz oder Weiß.

Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.

Lassen Sie auch uns als demokratisch gewählte Politiker dies immer wieder beherzigen und ein Beispiel geben.

Ehren wir die Freiheit.
Arbeiten wir für den Frieden.
Halten wir uns an das Recht.
Dienen wir unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit.
Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge.

 

 

Erfüllungsgehilfen

Sollte es wirklich jemanden geben, der sich nicht daran erinnern kann, wie der seinerzeitige Kanzleramtsminister und zugleich die Fleischwerdung des politischen Anstands, Ronald Pofalla, die Spionageaffaire um NSA und BND mit kraftvollsten Worten beendete? Nun, so richtig ausgestanden ist das Ganze dennoch nicht, trotz aller verbalen Kraftmeierei aus dem Bundeskanzleramt. Nunmehr geht es um Thomas de Maiziére, noch Innenminister der Republik. Michael Spreng, konservativer Publizist und einst Wahlkampfhelfer von Edmund Stoiber, urteilt in seinem Blog Sprengsatz:

Thomas de Maiziére ist kein Politiker, sondern ein Jurist und Beamter. Er hat den größten Teil seines politischen Berufslebens als Erfüllungsgehilfe hinter den Kulissen verbracht – immer auf Distanz zur Öffentlichkeit und den Medien. Er hat keine Parteikämpfe  hinter sich, aus denen er hätte lernen können, sondern betrachtet die Politik nur aus der formalen Perspektive der Administration. Taucht ein Problem auf, das kommunikative Fähigkeiten und Erfahrung mit den Medien erfordert, gerät er sofort ins Schlingern. So war es schon bei der Auseinandersetzung um die Aufklärungsdrohnen, die ihn beinahe sein Amt als Verteidigungsminister gekostet hätte.

So ist es auch heute bei der Bewältigung der aktuellen BND-Affäre. Statt Krisenkommunikation zu betreiben,  verschanzt sich de Maiziére hinter Geheimhaltung. Damit öffnet er sperrangelweit das Einfalltor der Opposition, die Regierung in dieser Affäre noch mehr vor sich herzutreiben, und vergrößert den Schlammassel. Und er überlässt es der Entscheidung einer fremden Macht, nämlich den USA, ob die Liste der ausgespähten Internet-Adressen veröffentlicht wird.

Da es aber diesmal nicht nur um die NSA, sondern auch um den Bundesnachrichtendienst geht, kann die Regierung nicht zur früheren – aus Ohnmacht geborenen – Praxis zurückkehren, den Fall für erledigt zu erklären. Diesmal ist die Regierung selbst dran.

Bevor die Affäre die Kanzlerin erreicht, wird einer daran glauben müssen. De Maiziére bietet sich dafür an.