Das Leben vor dem Tod

Es gibt heute Folter in 126 Staaten, jede Woche verhungern auf der Welt 250 000 Kinder. In den Kirchen wird mit viel liturgischem Brimborium Gott in Psalmen und Liedern gepriesen, während die Menschen mit einer ganz anderen Realität konfrontiert sind: Sie haben Bauspeicheldrüsenkrebs, oder ein Tsunami kommt, oder sie werden ermordet, oder der Islamische Staat verbrennt Leute bei lebendigem Leib. Übrigens ist das weniger schlimm, als was zu Luthers Zeiten auf dem Scheiterhaufen passiert ist. Damals haben sie die Leute an einen Pfahl gefesselt und das Holz ringsum angezündet. Die Ketzer sind langsam gestorben – und ihre Mörder haben gleichzeitig Lobe den Herren gesungen. (…) Aber die Kirchen sollten ehrlich sein und sagen: Wir wissen nicht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, aber wir hoffen darauf, und wer nicht an Gott glauben kann, ist kein Sünder, der muss was anderes tun. Franziskus sagte in seiner ersten Pressekonferenz an die Adresse der Atheisten: »Tut etwas Gutes, dann haben wir etwas Gemeinsames.« Also all das zu tun, was Gott offensichtlich nicht tut, aber tun müsste, wenn es ihn gäbe: Schmerzen und Armut beseitigen, Diktatoren bekämpfen, Folterer bestrafen. Auch die Theologie der Befreiung ist die Verwirklichung des Evangeliums, die Botschaft von Jesus, die Luther verschwiegen hat.

Heiner Geißler, nunmehr fünfundachtzig Jahre alt und seinerzeit Generalsekretär, also Lautsprecher seiner Partei, der Christlich Demokratischen Union, in einem bemerkenswerten Interview mit dem Magazin der Süddeutschen Zeitung, Ausgabe Zweiundzwanzig / Zweitausendfünfhundert.

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