Monat: Mai 2015

Raus

Ein letzter Schuss steckt noch in der Büchse. Am kommenden Samstag beim Champions-League-Finale in Berlin gibt es ein Strategietreffen. Dann will die Uefa “jede Option” gegen das Zürcher Endlosregime prüfen: vom Rückzug ihrer acht Mitglieder im Fifa-Vorstand bis zum Rückzug von Europas Verbänden aus allen Fifa-Bewerben. Dann darf sich der DFB nicht aus der Verantwortung stehlen. Der Weltmeister und weltgrößte Verband wird als Gastgeber der Uefa in Berlin Profil zeigen müssen. Warum geht er nicht, vereint mit gleichgesinnten Verbänden, erst mal raus aus Blatters Fifa? Keine Sorge: Eine WM ohne Deutschland, Frankreich, England, Holland – das wird es nie geben. Weil es keine WM ohne die Milliarden von TV und Sponsoren geben kann. Der Druck verstörter Geldgeber aber könnte den Wechsel herbeiführen – womöglich noch flotter als das FBI.

Thomas Kistner, Kommentar: Europas Versagen, in: Süddeutsche Zeitung vom dreißigsten Mai Zweitausendfünfzehn

Geboten

Die Gleichstellung von Lesben, Schwulen und Transgender, ist nicht etwa deswegen geboten, weil es Mehrheiten dafür gibt, sondern weil sie rechtlich und normativ richtig ist. Menschen- und Bürgerrechte gelten nicht deswegen, weil sie gerade en vogue sind. Sie gelten immer und universal. Es heißt: “Die Würde des Menschen ist unantastbar”. Es heißt nicht: “Die Würde nur jener Menschen, denen auch die Mehrheit diese Würde zugesteht, ist unantastbar”. Die Abschaffung der Sklaverei war nicht deswegen richtig, weil sich irgendwann, viel zu spät, Mehrheiten für sie fanden, sondern weil sie Unrecht korrigierte.

Aus: Carolin Emcke, Gleichstellung, in: Süddeutsche Zeitung von heute

Das Leben vor dem Tod

Es gibt heute Folter in 126 Staaten, jede Woche verhungern auf der Welt 250 000 Kinder. In den Kirchen wird mit viel liturgischem Brimborium Gott in Psalmen und Liedern gepriesen, während die Menschen mit einer ganz anderen Realität konfrontiert sind: Sie haben Bauspeicheldrüsenkrebs, oder ein Tsunami kommt, oder sie werden ermordet, oder der Islamische Staat verbrennt Leute bei lebendigem Leib. Übrigens ist das weniger schlimm, als was zu Luthers Zeiten auf dem Scheiterhaufen passiert ist. Damals haben sie die Leute an einen Pfahl gefesselt und das Holz ringsum angezündet. Die Ketzer sind langsam gestorben – und ihre Mörder haben gleichzeitig Lobe den Herren gesungen. (…) Aber die Kirchen sollten ehrlich sein und sagen: Wir wissen nicht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, aber wir hoffen darauf, und wer nicht an Gott glauben kann, ist kein Sünder, der muss was anderes tun. Franziskus sagte in seiner ersten Pressekonferenz an die Adresse der Atheisten: »Tut etwas Gutes, dann haben wir etwas Gemeinsames.« Also all das zu tun, was Gott offensichtlich nicht tut, aber tun müsste, wenn es ihn gäbe: Schmerzen und Armut beseitigen, Diktatoren bekämpfen, Folterer bestrafen. Auch die Theologie der Befreiung ist die Verwirklichung des Evangeliums, die Botschaft von Jesus, die Luther verschwiegen hat.

Heiner Geißler, nunmehr fünfundachtzig Jahre alt und seinerzeit Generalsekretär, also Lautsprecher seiner Partei, der Christlich Demokratischen Union, in einem bemerkenswerten Interview mit dem Magazin der Süddeutschen Zeitung, Ausgabe Zweiundzwanzig / Zweitausendfünfhundert.

Apfelbäumchen

Dreißigster Mai, schon wieder. Und also auch mal wieder Weltuntergang. Sie wissen schon: Am dreißigsten Mai ist der Weltuntergang, wir leben nicht mehr lang … Hier habe ich mich schon einmal ausgelassen übers heutige Datum. Deswegen jetzt nur Martin Luther: Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen. Heute,  morgen, einerlei. Wichtig ist das Apfelbäumchen. Und daß mal wieder Sommer wird.

Umlaufaufzug

Nicht wahr, Umlaufaufzug gehört zu den Worten, die man nie hört und nur ganz selten zu lesen bekommt. Umlaufaufzug. Gemeint ist ein Paternoster. Eine, wie Wikipedia aufklärt, “Sonderform einer Aufzugsanlage zur Personenbeförderung. Beim Paternosteraufzug verkehren mehrere an zwei Ketten hängend befestigte Einzelkabinen (üblicherweise für ein bis zwei Personen je Kabine) im ständigen Umlaufbetrieb. Die Kabinen werden am oberen und unteren Wendepunkt über große Scheiben in den jeweils anderen Aufzugsschacht umgesetzt. Die Beförderung von Personen beim Wendevorgang ist vorgesehen und gefahrlos. Die Beförderungsgeschwindigkeit beträgt ca. 0,20 bis 0,45 Meter pro Sekunde.” Doch ab dem ersten Juni ist es erst einmal vorbei mit den Paternostern. In der Süddeutschen ist heute zu lesen: “Gemäß der Betriebssicherheitsverordnung, die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) neu gefasst hat, dürfen Paternoster vom 1. Juni an aber aus Sicherheitsgründen nur noch von eingewiesenen Beschäftigten benutzt werden.” Andrea Nahles, mal wieder. Obwohl doch, wie es in dem Artikel weiter heißt, selbst Fachleute sich nicht an einen nennenswerten Unfall, schon gar nicht an Personenschäden im Zusammenhang mit Paternostern erinnern können. Diese Aufzüge sind ein Stück Industriegeschichte, erhaltenswert, sicher, nostalgisch. Vater unser, Pater noster, gib, daß uns der Paternoster erhalten bleibe und und die Einsicht in Andrea Nahles einfahre. Amen.

ESC

ESC? Escape oder Eurovision Song Contest? Letzteres. Wobei Escape, also Flucht, auch keine schlechte Lösung gewesen wäre. Hier ein paar Ausschnitte aus einer Kritik von Hans Hoff unter dem Titel: ESC-Finale in Wien. Ein Hauch von Nichts in der Süddeutschen Zeitung von gestern.

Zu deutlich wurde in Wien, dass der ESC musikalisch vorwiegend auf ganz kleiner Flamme kocht. Nachdem es im vergangenen Jahr mit dem Sieg von Conchita Wurst so etwas wie ein kollektives Erweckungserlebnis gegeben hatte, präsentierte sich die Show nun wieder als das, was sie in den meisten müden Jahren war, eine beliebig wirkende Aneinanderreihung von mehrheitlich lauwarmen Liedern, deren musikalische Substanz jenseits der ESC-Bühne kaum noch nachweisbar scheint.
In Sachen Belanglosigkeit machen auch die Erstplatzierten keine Ausnahme. Nicht nur Schweden, Russland und Italien haben als Spitzentrio wenig zu bieten, auch hochplatzierte Titel wie die von Belgien und Australien sind letztlich nur kalkulierte Songkonstruktionen, die ohne die visuelle Unterstützung einer großartigen Technik in sich zusammenfallen wie ein Kartenhaus im Sturm.
Letztlich aber passte das zur Gesamtvorstellung in Wien. Der ESC 2015, das war ein Platz, an dem viele schlechte Lieder aus ganz Europa vorübergehend Asyl fanden.
Wären die Lieder so tiefgründig wie die Dekolletees, die in diesem Jahr vorzugsweise bis auf Bauchnabelhöhe geöffnet wurden, könnte man dem ESC durchaus Substanz bescheinigen. Aber an Substanz ist beim ESC bekanntlich niemand interessiert. Dieser Wettbewerb ist für den schnellen Verzehr gedacht. Nachhaltigkeit kann hier niemand gebrauchen. Nachhaltigkeit würde die Folgeveranstaltung im kommenden Jahr nur stören.