Monat: September 2014

Verstörend

Seit einem Jahrzehnt wird im Bundestag über Karenzzeiten (von in die Wirtschaft wechselnden Ministern und Regierungsmitgliedern, W.H.) beraten, geschehen ist aber nichts. Union und SPD haben in ihrem Koalitionsvertrag zwar versprochen, eine „angemessene Regelung“ einzuführen. Vorgelegt haben sie bisher aber noch nicht einmal einen Entwurf. Stattdessen streicht die Koalition die Karenzzeiten-Anträge der Opposition ein ums andere Mal von der Tagesordnung.
Von der Union ist man derlei gewöhnt, sie lehnt die Wartezeiten für Minister eigentlich ab. Das Verhalten der SPD ist verstörender. Es ist noch keine zwei Jahre her, dass die Sozialdemokraten selbst einen Antrag für Karenzzeiten eingebracht haben. Er sah eine Wartezeit von 18 Monaten vor, innerhalb derer Regierungsmitglieder nur mit Billigung einer Ethik-Kommission einen neuen Job annehmen dürfen. (Robert Rossmann, Seitenwechsel. Mit Gschmäckle, in Süddeutsche Zeitung von heute)

Ein gerechtes Urteil Gottes

Ein gerechtes Urteil Gottes, Gewalt, abergläubische Gebräuche, abgeschnittene Köpfe, Blut überall, verstümmelte Leichname, Eroberung im Nahen Osten. ISIS? Islamischer Staat in Irak und Syrien? Der Kalifatsstaat?

Es war dies ein gerechtes Urteil Gottes, daß die, welche das Heiligtum des Herrn mit ihren abergläubischen Gebräuchen entweiht und dem gläubigen Volk entzogen hatten, es mit ihrem eigenen Blute reinigen und den Frevel mit ihrem Tod sühnen mußten. Schauerlich war es anzusehen, wie überall Erschlagene umherlagen und Teile von menschlichen Gliedern, und wie der Boden mit dem vergossenen Blut ganz überdeckt war. Und nicht nur die verstümmelten Leichname und die abgeschnittenen Köpfe waren ein furchtbarer Anblick, den größten Schauder mußte das erregen, daß die Sieger selbst von Kopf bis Fuß mit Blut bedeckt waren. Im Umfang des Tempels sollen an die zehntausend Feinde umgekommen sein, wobei also die, welche da und dort in der Stadt niedergemacht wurden und deren Leichen in den Straßen und auf den Plätzen umherlagen, noch nicht mitgerechnet sind, denn die Zahl dieser soll nicht geringer gewesen sein. Der übrige Teil des Heeres zerstreute sich in der Stadt und zog die, welche sich in engen und verborgenen Gassen, um dem Tode zu entkommen, verborgen hatten, wie das Vieh hervor und stieß sie nieder. Andere taten sich in Scharen zusammen und gingen in die Häuser, wo sie die Familienväter mit Weibern und Kindern und dem ganzen Gesinde herausrissen und entweder mit den Schwertern durchbohrten oder von den Dächern hinabstürzten, daß sie sich den Hals brachen. Das Haus aber, das einer erbrach, nahm er sich mit allem, das darin war, zum Eigentum für immer, denn man war vor Eroberung der Stadt miteinander dahin übereingekommen, daß nach der Eroberung derselben jeder, was er sich erwerbe, für alle Zeit als rechtliches Eigentum ansprechen dürfe. (Wilhelm von Tyrus, Historia rerum in partibus transmarinis gestarum, Deutsche Übersetzung: E. u. R. Kausler, Geschichte der Kreuzzüge und des Königreiches Jerusalem aus dem Lateinischen des Erzbischofs Wilhelm von Typus, Stuttgart 1840, achtes Buch, XX.)

Brücke ins Trübe

“Um schnell zu wachsen, heraus aus dem klein-professoralen Milieu, hat die AfD Brücken ins Trübe geschlagen. (…) Die AfD ist mehr Projektion als Partei, aufgepumpt von schillernd-diffusen, irrational-radikalen Erwartungen, schon jetzt bis zum Platzen gedehnt.” (Lorenz Maroldt, Alternative für Nazis, Tagesspiegel von heute)

Faltenfreie Erziehung

Paul Navarre ist Ihnen ein Begriff? Ich gestehe, ich hatte bis vor wenigen Tagen den Namen ebenfalls noch nicht gehört. Ist vielleicht auch nicht wirklich überraschend, handelt es sich doch bei Mr. Navarre um den Chef des Botox-Herstellers Allergan. Und mit Botox haben wir Männer über sechzig doch vergleichsweise wenig zu tun, wenn es sich bei uns nicht gerade um gewesene Holywoodgrößen handelt. Es geht auch nicht um uns alte Männer, es geht um unsere Frauen. “Faltenfrei sollen die deutschen Frauen in die Zukunft sehen, und zwar immer mehr von ihnen.” Mit diesen Worten plant Paul Navarre eine Offensive auf dem deutschen Markt, wie neulich der österreichische Standard schrieb. Paul Navarre ist der Europachef eines Giftmischerunternehmens. Denn “Botulinumtoxin, auch Botulinum-Neurotoxin (BoNT), Botulismustoxin, Botulinustoxin, Botulin (…) ist ein Sammelbegriff für mehrere sehr ähnliche neurotoxische Proteine“, wie uns Wikipedia mitzuteilen weiß. “Die Giftwirkung der Eiweißstoffe beruht auf der Hemmung der Signalübertragung von Nervenzellen, die neben Muskelschwäche auch zu Störungen des vegetativen Nervensystems bis zum Stillstand der Lungenfunktion führt. Botulinumtoxin ist eines der stärksten bekannten Gifte.” Kein Wunder also, daß Paul Navarre noch Akzeptanzprobleme erkennt, die beseitigt werden müssen. “Wir müssen die Frauen erziehen.” Zur Faltenfreiheit. Frauen sollen bleiben, wer sie sind, “nur dabei fünf Jahre jünger aussehen”. Die deutschen Verbraucherinnen gäben zu viel Geld für kaum wirksame Cremes aus. “Und nur ganz wenig für Botox, obwohl das einen direkten Effekt bringt.” Das Schönheitsideal der Giftmischer bleibt die Geldbörse.

Neue Liberale Partei

Der Liberalismus als politische Idee hat Schaden genommen, keine Frage. Man verbindet damit nicht mehr das, was in den philosophischen Texten von Karl-Hermann Flach oder Ralf Dahrendorf steht. Man assoziiert damit nur noch negative Begriffe wie Egoismus, Gier, Rücksichtslosigkeit, Opportunität und Beliebigkeit. (Karim Najib, Neue Liberale Partei, im Interview mit ntv am sechsundzwanzigsten September)

Menschlich

Ohne viel öffentliches Tamtam vollbringt die Türkei zurzeit eine humanitäre und eine politische Großtat. Anderthalb Millionen syrische Flüchtlinge haben die Grenze überquert, sie leben in Lagern oder schlagen sich durchs Land in die Städte durch. In Istanbul sitzen sie als Bettler auf der Straße. Insgesamt aber werden die Flüchtlinge in der Türkei aufopferungsvoll und unter hohen Kosten versorgt und auch dies: menschlich auf- und angenommen. (Stefan Kornelius, Hilfe für den Helfer, Süddeutsche Zeitung vom sechsundzwanzigsten September)

Mehrheit

In der Minderheit war bislang mein Platz. Anecken meine Paradedisziplin. Und nun? Nix da, Minderheit. Ich bin im Mainstream angekommen, in der entsetzlich langweiligen Mehrheit. Bolschewiki. Siebenundsiebzig Prozent der Deutschen wollen Andrea Nahles nicht als Kanzlerkandidatin. Bei den SPD-Mitgliedern sind es immerhin sechsundsiebzig Prozent, die die ehemalige Jusochefin und Generalsekretärin als Kanzlerinnenkandidatin ablehnen. Und ich mittendrin in beiden Mehrheitsgruppierungen. Ich werde an mir arbeiten müssen.