Besserwisserkapitalismus

Ganz nett, gestern in Spiegel Online:

Der moralische Besserwisser-Kapitalismus der Kanzlerin stößt an seine Grenzen: Bloße Sparsamkeit dürfte verschuldeten Staaten wie Griechenland wohl kaum zu neuem Wohlstand verhelfen. Und auch Deutschland selbst muss mehr tun, als sich nur als Exportweltmeister feiern zu lassen. Ideologen sind Menschen, die sich die Wirklichkeit nach ihren Ideen formen. In diesem Sinn ist Angela Merkel, die gern als Pragmatikerin bezeichnet worden ist, Europas führende Ideologien. “Half-truth”, so nennt der “Economist” das, was Merkel sich und Europa erzählt, Halbwahrheiten, die dann auch halbe Lügen sind und viel damit zu tun haben, wie Merkel die Dinge sehen will, und wenig damit, wie die Dinge sind. “Die deutsche Halbwahrheit ist”, so analysiert der “Economist” die anhaltende Verblendung Merkels, “dass die Probleme der Euro-Zone gelöst werden, indem die verschuldeten Staaten durch Sparen zurück zu Wohlstand finden.” Sparen also, die Ideologie dieses protestantisch-moralischen Besserwisser-Kapitalismus, wie ihn Merkel praktiziert, gegen den Rat des pragmatisch-liberalen “Economist”, gegen den Rat so gut wie aller amerikanischen und auch sonstigen Ökonomen, gegen fast alle anderen europäischen Staaten und auch gegen den 77-jährigen Rentner, der sich auf dem Syntagma-Platz erschießt, weil er nicht ohne Würde leben will. (…) Es geht, im tieferen Kern dieser Krise, um diese Geschichten, die wir uns erzählen, weil wir an sie glauben wollen. Europa ist so eine Geschichte, und wie Tausende Jahre später immer noch daran appelliert wird, dass Griechenland doch die “Wiege Europas” sei und schon deshalb zum Euro gehört. Das ist schon nicht mehr lächerlich, sondern tragisch – wenn es nicht nur politisch kalkuliert ist. Auch der Kapitalismus ist so eine Geschichte, die davon handelt, dass Wohlstand alles ist, wonach der Mensch strebt – in letzter Zeit, so ist die gängige Form der Geschichte, ist das nicht mehr auf der Ebene der Staaten möglich, man nennt das Globalisierung. (…) Es sind die kulturellen Wurzeln des Euro-Debakels, die in diesen Geschichten deutlich werden – und es gibt natürlich noch ein paar andere Halbwahrheiten in dieser Krise, in diesem Kontinent, der vor allem erst einmal als Geschichte bestand, nicht als Realität: die vom französischen Laisser-faire, von der deutschen Sparsamkeit, vom italienischen Schlawinertum. Aber diese Geschichten bringen nichts. Deutschland etwa, da sind sich die meisten Ökonomen einig, kann so nicht weitermachen, sich als Exportweltmeister zu feiern: Es muss mehr Inflation wagen, mehr Konsum wagen, weniger Sparen wagen. “Like some dreadful joke”, schreibt der “Economist”, “the Euro needs French reform, German extravagance and Italian political maturity.” (…) Das Europa jedenfalls, von dem wir sprechen, hat sich von einem ideellen Projekt, falls es das auf politischer Ebene wirklich jemals war, in ein ökonomisches Projekt verwandelt, das Reden über Europa wird dadurch bestimmt, das Denken, das Handeln. Und vielleicht ist das ja gar nicht so schlecht, vielleicht ist das sogar ein Anfang.

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