Tag: 23. März 2012

Der Rhetor der Republik

Nein, Joachim Gauck war nicht mein Kandidat. Ich habe ihn nicht ausgewählt und ich hätte ihn nicht gewählt. Für Beate Klarsfeld hätte ich votiert. Frau, Antifaschistin, Moralistin, in der Tradition bürgerlicher Anständigkeit – das hätte dem Land gut zu Gesicht gestanden. Nun habe ich eben die erste Rede des Bundespräsidenten gelesen. Die erste Rede von Joachim Gauck als Bundespräsident ist gewiß keine sehr belastbare Basis für ein profundes Urteil. Dennoch: Sind wir nicht mit einigen der bisher zehn Bundespräsidenten schlechter gefahren als beim Elften? Selbst manch spätere Rede gewesener Präsidenten kann den Vergleich mit der ersten des amtierenden nur scheuen. Chapeau. Vieles von dem, was Gauck heute im Bundestag sagte, war nicht deutlich genug, vieles war auf den Konsens hin gesprochen, den es nach der massiven Kritik etwa in Blogs und anderen Netzpublikationen in Gang zu bringen galt. Die Wirkungskraft einzelner bekannt gewordener Äußerungen des Kandidaten sollte vom Präsidenten eingefangen und relativiert werden. Gleichwohl: Da hat Gauck in einer kurzen Rede die Geschichte (West-) Deutschlands nur gestreift und zugleich der Wiederaufbaugeneration und den Achtundsechzigern ihre jeweilige Bedeutung für Demokratie und Freiheit in Deutschland attestiert; er hat das vermeintlich Fremde im eigenen Land als Bestandteil unseres Kulturkanons gewertet; den Neonazis hat er eine entschiedene Abfuhr erteilt und den Konsens der Demokraten gegen Rechts befördert; selbst gegen die soziale Spaltung unseres Landes hat der gelernte Pfarrer angesprochen und den Sozialstaat rhetorisch verteidigt. Ganz ehrlich: Mit all dem hätte ich nicht gerechnet, nicht in dieser Form. Der Zweiundsiebzigjährige hat sich als lernfähig und beweglich erwiesen. Womöglich ist dieser Mann ein Gewinn für die Republik, wenn und solange er es vermag, sich der Indienstnahme durch gesellschaftliche Gruppen, einzelne Parteien, Macht- und Interessengruppen zu entziehen. Wenn er unabhängig ist, es bleiben kann, wenn er sein Vermögen einsetzt. Tiefe der Gedanken und sprachliche Kraft. Schon jetzt wird man sagen können, daß es sprachlich kaum bessere Präsidenten gab. Heuß war jovial und verschmurgelt, gab den Onkel der jungen Republik, Lübke, naja, Schwamm drüber, Heinemann war grundehrlich, aber ein wenig hölzern und eröffnete dem Land die Perspektive heraus aus der Adenauerschen Politik, Scheel hatte gute Laune, kaum mehr, Carl Carstens wanderte und sprach blödes Zeugs, Richard von Weizsäcker bleibt wegen des Diktums vom achten Mai als Tag der Befreiung im Gedächtnis, Roman Herzog beschwor den Ruck, wie, weiß man schon nicht mehr, und Johannes Rau hatte nach anfänglichen Schwächen durchaus das Zeug zur bewegenden Rede. Köhler und Wulff waren die Präsidenten, die das Land nicht verdient hatte. Gauck hat nach seiner ersten Rede mindestens schon sechs seiner Amtsvorgänger hinter sich  gelassen. Mit einer Rede unter dem Titel: “Wie soll es nun aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel ‘Unser Land’ sagen sollen?” Nun denn: Ich sage es jetzt bereits: Dieses Land ist auch mein Land. Auf Enkel will ich nicht warten. Gauck ist also mein Präsident. Die Ausgrenzung nach dem Motto: “Dann geh doch nach drüben:”, die ich lange, lange habe genießen dürfen, funktioniert schon lange nicht mehr. Ich lasse mich aus meinem Land, meinem Gemeinwesen nicht mehr herausdefinieren, von niemandem. Dieses Land ist auch mein Land. In diesem Sinne ist der Präsident auch mein Präsident. Und vielleicht wird Joachim Gauck, wer kann es wissen, mehr als der Rhetor der Republik, der Lehrer der Beredsamkeit. Das jedenfalls ist er schon.

Produzentenliberalismus

Paul Nolte, Professor für Neuere Geschichte, hat sich in der Frankfurter Rundschau Online  über den “Produzentenliberalismus” der FDP ausgelassen. “Insofern findet am 13. Mai eine Testwahl über die Frage statt, ob die FDP noch mehr sein kann und will als eine Klientelpartei der Anwälte und Zahnärzte. Als solche kann sie in einem Land wie Nordrhein-Westfalen sicher nicht bestehen.” Sie müsse vor allem dem “einfachen Volk” deutlich machen, wofür eine liberale Partei gut ist. Für ein bis zwei Prozentpunkte seien “vollmundige Appelle” von Christian Lindner vielleicht gut. Aber, so Nolte wörtlich: “Freiheit ist nicht nur ein „Produzenten-Liberalismus“ im Interesse von Unternehmern und Selbstständigen. Konsumenten haben ganz andere Freiheitsinteressen, die weit über Wirtschaft hinaus bis ins Unpolitische gehen.”