Comeback?

“Wenn einer die FDP aus der Misere herausführen kann, dann ist es Christian Lindner.” So der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge im Kölner Stadtanzeiger. Ein interessantes Lob, kommt es doch von einem Professor, der für die Linke im deutschen Bundestag sitzt und standhaft gegen neoliberale Positionen anschreibt. Aber es ist wohl wahr: Wenn jemand das Zeug hat, das intellektuelle und politische, die einst bedeutsame, inzwischen aber zur radikal neoliberalen Ein-Thema-Wirtschaftspartei verkommene liberale Partei wieder auf einen Kurs zu bringen, der auch Menschen jenseits der Rechtsanwaltsberufe, Zahnärzte, Notare und Finanzdienstleister, der Versicherungsunternehmen, Banken oder Hedgefonds anzusprechen in der Lage ist, dann ist es der Jüngste aus der blau-gelben Boygroup. Kein Wunder, daß Lindner in der Bergischen Morgenpost gar als “Lichtgestalt” bezeichnet wird. Christian Lindner hat jedenfalls vor geraumer Zeit schon publiziert, daß sich die liberale Partei aus der politischen Verengung lösen und stärker die gesamte Bandbreite des politischen Liberalismus repräsentieren muß. Fraglich bleibt, ob das substanziell mehr ist als bloße Garnierung des politischen Kurses, den die FDP in den letzten Jahren, im letzten Jahrzehnt unter Westerwelle eingeschlagen hat. Und bei dieser Kursverengung waren sie alle schon dabei, auch jene, die jetzt das Sagen haben, nach Westerwelle, gegebenenfalls sogar nach Rösler. Auch Christian Lindner. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Dieser große Satz des russischen Philosophen und Staatenlenkers Gorbatschow kennzeichnet eben nicht nur die Honeckers dieser Welt, sondern womöglich auch die Lindners. Die FDP hat nun diesen Versuch in Nordrhein-Westfalen. Im Grunde sind sich alle Auguren einig: die FDP hat bei den drei anstehenden Landtagswahlen kaum eine Chance in die Landtage zurückzukehren und sich weiter an den Fleischtrögen der Macht zu laben. Sie hat fürs erste: abgewirtschaftet. Politisch und personell ist sie ausgezehrt. Blass. Bläulich-Gelblich. Und also ist das Risiko für den bis zum Dezember als Generalsekretär der Bundes-FDP agierenden Christian Lindner überschaubar. Jedenfalls das persönliche Risiko. Schafft er es, die FDP in Nordrhein-Westfalen auf ein erträgliches Maß diesseits der Zwei-Prozent-Marke zu hieven oder gar an die oder über die Fünf-Prozent-Grenze, dann wird er zum umjubelten Guru. Bleibt die FDP dort, wo sie sich jetzt nach allen Umfragen befindet, im politischen Nichts, hinter Piraten, auf Augenhöhe mit den Tierschutz- und Bibelparteien, bei den Sonstigen, dann wird es heißen, daß nicht einmal das größte politische Talent der FDP in der Lage war, in dieser kurzen Zeit das Ruder herumzureißen. Und Landesvorsitzender der FDP wird Christian Lindner bleiben. Die Machtbasis für später ist gelegt. Die FDP wird ja nicht verschwinden. Die Wähler haben sie, zu Recht, wie sich die Partei derzeit präsentiert, aus den Augen verloren. Christian Lindner ist nicht nur das große politische Talent der FDP, er ist auch das jüngste Talent. Er hat die Zeit auf seiner Seite. Auch für ein Comeback. Ein persönliches Comeback. Ein Comeback seiner Partei. Partei und Lindner müssen sich für ein Comeback allerdings häuten, die verhornte Schlangenhaut des unsozialen Neoliberalismus abstreifen. Originalton Christian Lindner: “Oskar Lafontaine hat unlängst behauptet, die Kernforderungen des Freiburger Programms würden heute nur noch von der Partei „Die Linke“ vertreten. Er hat Recht, denn tatsächlich formuliert nur noch seine Partei eine Sozialpolitik im Stil der frühen siebziger Jahre.” Da haben wir das Muster. Rückgriff auf die Freiburger Thesen der FDP. Öffnung, Erweiterung des verengten Blick auf die politische und gesellschaftliche Lage im Land. Und zugleich die Denunziation als gestrig. “Objektiv betrachtet hat Deutschland ein historisch und weltweit nahezu einmaliges Niveau an sozialer Sicherheit erreicht. Inzwischen sind Folgeprobleme erkennbar: Mitunter wirkt der Wohlfahrtsstaat wie ein Magnet, der Menschen in seiner Sphäre hält, statt sie in die Selbstverantwortung und Teilhabe an Arbeit zurückzuführen.” Christian Lindner, schauen Sie sich um im Land. Ohne bläßlich blau-gelbe Brille. Unzählige Menschen befinden sich in unserer reichen Republik in prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen, sind gleichwohl fleißig, leistungsbereit und arbeitsam. Das Niveau sozialer Sicherung in unserem Land ist hoch, zweifelsfrei. Gleichwohl verhindert es nicht, daß immer Menschen in immer unsichereren Verhältnissen zu Leben gezwungen sind, daß die Spaltung in Oben und Unten, in Arm und Reich zugenommen hat. Daß einige wenige von den Krisen profitiert und viele diesen Profit mit finanziellen Verlusten, sozialen Einschränkungen, mit Sorgen und Ängsten zu bezahlen haben. Zu dieser Erkenntnis verhilft ein vorurteilsfreier Blick auf die Wirklichkeit ohne ideologische Verengung. Nicht einmal “links” muß man sein, um zu einem solchen Urteil zu kommen. Man kann sogar ein Liberaler sein. Denn: “Wer Angst vor Armut, Alter, Arbeitslosigkeit oder Krankheit haben muss, der ist nicht frei”, so Christian Lindner im gleichen Text. In der Tat: Armut, Arbeitslosigkeit oder Krankheit und die Ängste, arm zu werden, die Arbeit zu verlieren, die Familie nicht mehr ernähren zu können, krank zu werden und das Ganze nicht bezahlen zu können, hindern die Menschen an gesellschaftlicher Teilhabe, an Selbstverantwortung. Das Sozialsystem ist eben kein Magnet. Mit dem Leben im Sozialsystem sind in aller Regel Einschränkungen, Deformationen, Defizite verbunden, auch an der Würde der Menschen. Selbst wenn die eigentliche Klientel einer liberalen Partei nicht die große Zahl von Arbeitnehmern und Angestellten sein sollte, kommt man mit der Denunziation dieser Menschen als nicht arbeitsam und in der sozialen Hängematte eingerichtet politisch nicht sehr weit. Das haben die Ereignisse der letzten beiden Jahre zur Genüge bewiesen.  Die Besserverdienenden sind eben nicht automatisch auch die Leistungsbereiten. Boni für Bänker, die veritable Pleiten hingelegt haben, sind das Gegenteil von Prämien für Leistungsbereitschaft. Und die Leistungsbereiten sind eben nicht auch automatisch die Besserverdienenden. Wo wäre die deutsche Wirtschaft denn heute, in und nach der Krise ohne die Vielzahl fleißiger Arbeiter und Angestellter, die unter Verzicht auf Lohnerhöhungen seit Jahren die Räder rollen lassen? Zudem hat die Krise gelehrt, daß Mißbrauch von sozialen System eben nicht nur bei denen da unten stattfindet. Steuerhinterziehung oder Subventionsbetrug sind um nichts ehrbarer als die Hartz IV-Mogelei. In der Dimension eher gewaltiger. Die Gier des Geiz-ist-geil steht der Gier des Hast-Du was- Bist-Du-was der Finanzwirtschaft nach. Kurzum: Ich kann mir eine Erneuerung der liberalen Partei nicht denken ohne eine geschärftere Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit. Wer das soziale Leben der Menschen ausblendet, mehr noch: wer die Ängste und Sorgen der Menschen in ihrer Mehrheit als dekadent denunziert, den bestraft das Leben, an der Wahlurne. “Vierzig Jahre nach den Freiburger Thesen ist aber auch wieder – um das Wort aufzunehmen – eine ‘Reform des Kapitalismus’ dringlich.” Stand bei Karl-Hermann Flach, dem Autor der Freiburger Thesen der FDP, noch die soziale Teilhabe der Menschen an den Ergebnissen wirtschaftlichen Handelns im Vordergrund, Mitbestimmung, so ist für Lindner die Reform des Kapitalismus eine neue Balance zwischen Markt und Staat. “Der Mittelständler fühlt sich von Bürokratie und Fiskus drangsaliert – und zugleich entfesselten Gewalten ausgeliefert. Vom Staat erwartet er zu Recht den Schutz einer fairen Freiheitsordnung. Stattdessen hat sich der Schuldenstaat selbst in die Abhängigkeit der globalen Finanzmärkte begeben.” Das ist das eigentliche Feindbild der FDP, der Staat. Die Märkte gehen vor Staat. Der Staat hat die Aufgabe, die Märkte zu schützen. Mehr nicht. Der Staat aber sind wir alle. Das Volk, die Regierenden, die wirtschaftlich Handelnden, die Verwaltung, die Gesetze, die Regeln, die Politik, das Recht, die Gesetze, Parlamente. Das Gemeinwesen und seine Grundidee. Wir geben uns einen Staat, wir treten Rechte ab an den Staat, als einzelne, als Gemeinschaft, damit der Staat uns schützt, damit der einzelne geschützt wird vor Übergriffen. Wir geben uns einen Staat, damit jemand die Regeln durchsetzt, die wir uns im Gemeinwesen geben. Märkte führen nicht per se zu sozialem Ausgleich. Märkte sind in ihrer Folge eher chaotisch denn geregelt. Märkte garantieren nicht Freiheit, Demokratie, soziales Wohlergehen. Der Staat kann das. Nur der Staat. Deshalb geht Staat vor Markt. Politik vor Wirtschaft. Macht vor Geld. Jedenfalls im Prinzip. Lindner hat Recht. An dieser Stelle geht es darum, wie die Balancen beschaffen sind, zwischen Staat und Markt, zwischen Staat und Einzelnem, zwischen Politik und Wirtschaft, zwischen Markt und Bürokratie. Und da ist viel aus der Balance geraten, da hat sich vieles verkehrt. “Heute besteht diese Reform (des Kapitalismus, W.H.) in der Wiederbelebung der Sozialen Marktwirtschaft – als Regelrahmen der Märkte.” Einverstanden. Der ungezügelte Kapitalismus, vor allem die Finanzwirtschaft, braucht einen Regelrahmen, der Wirtschaft wieder vom Kopf auf die Füße stellt. Verluste dürfen nicht mehr sozialisiert, also der Gemeinschaft aufgehalst werden, während Gewinne privatisiert werden. “Wer baute das siebentägige Theben. In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?” Mit diesen Fragen beginnen die Fragen eines lesenden Arbeiters von Berthold Brecht. An den Gewinnen weniger ist immer auch auch die Leistung vieler beteiligt. Die Balance der Verteilung stimmt nicht. Der Kapitalismus muß reformiert werden. Gezügelt. Es muß umverteilt werden. Nach den Kriterien gesellschaftlicher Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist keine Marktkategorie. Das ist eine moralische und dann auch eine politische Forderung, Position. Gerechtigkeit ist das höherwertige Gut. Früher auch für die Liberalen. “Die Freiburger Thesen haben zu Recht den Blick dafür geschärft, dass die Verwirklichung von Lebenschancen Voraussetzungen hat: beispielsweise eine tolerante Gesellschaft, materielle Grundsicherung, individuelle Bildung und intakte natürliche Lebensgrundlagen. Ohne diese Ressourcen wird Freiheit zu einer bloß formalen Möglichkeit.” Ich stimme Christian Lindner zu. Die Freiburger Thesen haben den Blick auf die individuellen Lebenschancen geschärft, den Blick aber auch auf die Voraussetzungen für diese Lebenschancen. Es geht eben um mehr als die lediglich formale Möglichkeit zur Lebensverwirklichung, zu sozialer Sicherheit, zu individueller Bildung, einer intakten Umwelt. Ein Blick, ein Blickwinkel, der der liberalen Partei von heute verloren gegangen ist. Nur wenn Lindner es schaffen sollte, den Blick und das Handeln der FDP aus der neoliberalen Verengung zu befreien, wird die FDP eine neue Chance bekommen. Und das ist kein Programm für die wenigen Wochen bis zur Landtagswahl. Über diese Arbeit kann man schon vierzig und älter werden. “Aber in der Politik ist alles möglich.” So jedenfalls Bürgermeister Eric Weik heute in der Bergischen Morgenpost.

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