Tag: 4. Juni 2010

Mut zur Wahrheit

“Mut zur Wahrheit”. So der Titel eines Buches von Utz Claassen. Untertitel: “Wie wir Deutschland sanieren können.” “Wir leben als Gesellschaft schon seit langem über unsere Verhältnisse”, heißt es im Klappentext. “Jeder Euro für vermeidbare Transferleistungen fehlt für Investitionen in die Zukunft. Auf Dauer produziert man damit mehr Ungleichheit, nicht weniger. Der ganze Umverteilungsapparat verschlingt Unmengen an Geld. Im Grunde genommen sollten sehr wohl Versorgungsbedürftige, nicht jedoch alle Versorgungsfähigen vom Staat Geld bekommen. Dann könnten wir mehr für Forschung, Ausbildung und Entwicklung ausgeben”, sagt er erläuternd in einem Interview und prophezeit: “Wir werden unseren Lebensstandard so kaum halten: mit den höchsten Löhnen, den kürzesten Arbeitszeiten, den längsten Ferien und einer der niedrigsten Geburtenraten.” [Der Tagesspiegel vom 21.03.2007] Utz Claassen ist Experte, für vieles, eigentlich für alles. Vor allem aber Experte fürs eigene Wohlergehen. Nach seiner Karriere beim Energieversorger EnBW – dort hat er ein Millionensalär bezogen und eine Millionenabfindung – heuerte er im Januar  bei Solar Millenium an. Für: 40 Tage Urlaub pro Jahr, 100 000 Euro Salär pro Monat, zwölf Monate Lohnfortzahlung im Krankheitsfall – und eine Antrittsprämie in Höhe von neun Millionen Euro. 40 Tage Urlaub, zwölf Monate Lohnfortzahlung – Angestellte mit solchen Forderungen hätte Claassen wohl sofort die Tür gewiesen. Nach nur 74 Tagen aber hat Claassen seinen Job geschmissen. Die Antrittsprämie aber will er behalten. Der Dauergast in den TV-Talkrunden predigt ständig öffentlich Wasser und trinkt heimlich besten Wein. Utz Claassen kann bestenfalls als Experte für die eigenen Arbeitsverträge gelten, für Fragen des öffentlichen Wohlergehens, des Gemeinwohls, sozialer Gerechtigkeit, Moral und Arbeitsethik ist und bleibt er disqualifiziert. Die Utz Claassens sind es, die unsere Gesellschaft vergiften.

Die ausgezehrte Republik

Die ausgezehrte Republik, so hat Michael Schöfer seinen Artikel zum kommenden Bundespräsidenten überschrieben.

Was wird passieren? Es ist leider vorhersehbar: Der künftige Präsident wird – wie bisher – ein paar belanglose Reden halten, etliche Gesetze unterzeichnen, darunter vielleicht sogar einige verfassungswidrige, und bereitwillig Bundesminister ernennen oder entlassen, wenn ihm die Kanzlerin den Wink dazu gibt. Wenig Spektakuläres also, es wird sich folglich gar nichts ändern. Vielleicht ist genau das unser Problem. Und nicht, wer demnächst Deutschland repräsentiert. Wie ausgezehrt das politische Personal der Republik ist, hat doch die Kandidatenfrage zur Genüge gezeigt. Dass der extrem blasse Christian Wulff überhaupt Bundespräsident werden kann, ist bezeichnend. Ein Land, in dem Ursula von der Leyen, Annette Schavan oder Jürgen Rüttgers in die engere Wahl gezogen werden, hat offensichtlich ein Problem, und zwar ein personelles. (…) Die auf Stromlinienförmigkeit gebürsteten Parteien setzen lieber aufs langweilige Mittelmaß, das ist wenigstens berechenbar. Insofern haben sie mit Wulff, der sorgsam sein Image des netten Jungen von nebenan pflegt, haargenau ins Schwarze getroffen. Dem farblosen Köhler folgt ein ebenso farbloser Wulff. (…) Christian Wulff passt zur Regierungskoalition, deren Repräsentanten fast durchweg äußerst farblos sind. Der Fisch stinkt vom Kopfe her: Bei der Kanzlerin weiß man nicht, was sie wirklich will (außer an der Macht bleiben). Westerwelle hat zwar zu allem etwas zu sagen, bleibt aber immer erkennbar an der Oberfläche. Mangelnden Tiefgang kompensiert er durch Aggressivität. Und der bayerische Ministerpräsident ist selbst bei CSU-Anhängern umstritten. Markante Köpfe muss man mit der Lupe suchen, entsprechend ist die geistige Verfassung des Landes: Die Republik wirkt ausgezehrt. Darüber hat man in der Presse allerdings wenig gelesen. Schade, abermals eine Chance vertan.

Dem ist nun wirklich nichts mehr hinzuzufügen.