Tag: 7. November 2009

“Peinlich gibt’s nicht mehr”

Und noch ein Fundstück: Spiegel-Online vom 4. November. “Das Grundrecht auf Schmach” – so ist der Artikel von Frank Patalong überschrieben, in dem es um zwei amerikanische Schülerinnen geht, die von ihrer Schule abgemahnt wurden, weil sie anstößige Fotos von sich ins Internet gestellt hatten. Ein schönes Stück Medienkritik, neue und online-Medien inclusive:

Im Fernsehen balzen gehemmte Bauernsöhne öffentlich um Publicitysüchtige oder einsame Unverheiratete. Im Schimmel lebende Vertreter des Prekariats lassen sich als Gegenleistung für ihre öffentliche Blamierung kostenfrei die Wohnungen und Häuser sanieren. Beziehungsgestörte lassen vor laufender Kamera ihre verhaltensauffälligen Blagen therapieren. Fortpflanzungswillige Möchtegern-Väter mit verminderter Spermienzahl onanieren unter öffentlicher Anteilnahme, um ihrem Bemühen um neues Leben Ausdruck zu verleihen. Welche intimen Dinge, fragen sich da ältere Semester, haben sich junge Leute überhaupt noch mitzuteilen, wenn sie wirklich intim werden? Ist dann nicht alles, was früher wertvolles, geheimes Wissen war, profan? “Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien”, schrieb einst Niklas Luhmann. Das stimmt vielleicht nicht ganz, aber richtig ist, dass die Welt ein subjektives Konstrukt ist: “Richtig” ist sie so, wie wir sie vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen, unseres gelernten Wissens, unseres inneren Bewertungskompasses wahrnehmen. Richtig ist aber auch das Prinzip Pippi Langstrumpf: Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt. Soll heißen: Wir sind da nicht ohne Einfluss. Wenn man von MySpace, Reizwäsche und Penis-Lutschern hört, fragt man sich mitunter, ob das in der atemlosen, über-kommunikativen Twitter-Social-Network-Welt nicht zu oft vergessen wird. Manchmal kann man die Welt schon verbessern, wenn man manche Dinge nicht twittert, manches Foto nicht zeigt.

“Immer mehr Menschen haben zu wenig”

Der trübe Novembersamstag. Am Computer höre ich WDR2, Fußballbundesliga. Die Spiele scheinen auch nicht sonderlich aufregend zu sein. So trüb wie das Wetter. Also suche ich so ein wenig rum. Und finde. Die Tagesschau vom 5. November zum Beispiel. Unter der Überschrift: “Immer mehr Menschen haben zu wenig” wird das Statistische Bundesamt zitiert. Demnach gab es zum Jahresende 2008 insgesamt 768.000 Empfänger (!) von Grundsicherung, 4,8 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Grundsicherung soll den grundlegenden Bedarf für den Lebensunterhalt im Alter und bei Erwerbsminderung sicherstellen. Die Mehrheit der Betroffenen ist im Rentenalter. Auch immer mehr Männer erhalten diese besondere Form der Sozialhilfe. Von Altersarmut betroffen sind derzeit 2,5 Prozent aller Rentner. Die Zahl wird in den nächsten Jahren weiter anwachsen, weil immer weniger Menschen ihr ganzes Leben in Vollzeit arbeiten. Immer häufiger gibt es so genannte Brüche im Erwerbsleben – entweder durch Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit. Auch die Zahl von Teilzeit- oder Minijobs steigt. Dadurch sammelt man nicht mehr so hohe Rentenansprüche an, dass man im Alter davon leben kann. Novembertrübe Aussichten.

Gesundheit als Ware

Ich hadere immer noch mit der Sendung von Anne Will am vergangenen Sonntag. Es ging, mal wieder,  um das Ende des Sozialstaates. Meine Lust am Polit-Talk ist seit geraumer Zeit schon sehr gedämpft. Mein Erregungspotential entsprechend gering. Daß der FDP-Bundestagsabgeordnete, Martin Lindner,  schneidig für den Umbau des bundesdeutschen Sozialsystems zu Lasten der abhängig Beschäftigten plädierte, wen kann das derzeit wirklich im Mark erschüttern? Daß aber ein Kommunikationswissenschaftler, Norbert Bolz, die Gesundheit und das Gesundheitssystem kurzerhand zum Marktgeschehen machte, das wirkt in mir nach. Natürlich findet im Gesundheitssystem auch Marktgeschehen statt. Aber: Gesundheit ist kein Produkt, keine Ware, schonmal gar kein Luxusgut. Im Gründungsvertrag der Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen von 1946 heißt es: “Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen. Der Besitz des bestmöglichen Gesundheitszustandes bildet eines der Grundrechte jedes menschlichen Wesens, ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der politischen Anschauung und der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung. Die Gesundheit aller Völker ist eine Grundbedingung für den Weltfrieden und die Sicherheit; sie hängt von der engsten Zusammenarbeit der Einzelnen und der Staaten ab.” Gesundheit ist also keine Produkt des Gesundheitsmarktes, auf dem sich Wohlhabende mehr leisten können müssen als die Mehrheit der armen Schlucker. Gesundheit hat den Status eines Menschenrechts. Das vergessen die schneidigen Einschneider ins soziale Netz geflissentlich. Und eine solidarische Finanzierung des Gesundheitswesens, in die sich alle nach ihren Kräften und Vermögen einbringen, ist wesentliche Voraussetzung fürs Gelingen eines solchen Systems, nicht aber die Position der Gleichmacher, der Kopfpauschalisten.

Tacoma-Bridge

7. November 1940. Heute vor 69 Jahren stürzte die Tacoma-Brücke im US-Bundesstaat Washington ein. Starkwinde aus Südwesten ließen die gerade mal vier Monate alte Brücke über den Narrows in Schwingungen geraten. Eine dreiviertel Stunde lang hielt die Brücke der Windstärke acht noch stand. Ein Cockerspaniel kam beim Einsturz der Brücke zu Tode, Menschen nahmen keinen Schaden. Ach ja, Vorbild für die Brückenbauer in den USA war die Planung der Rodenkirchener Brücke in Köln.